Kundus. Die Bundeswehr forderte in Afghanistan einen US-Kampfjet an, der von Talibankämpfern gekaperte Tanklaster bombardierte – mit dramatischen Folgen. Dutzende Menschen sterben - ob auch Zivilisten darunter sind, ist noch unklar. Unter der Bevölkerung gebe es paradoxe Reaktionen.
Für Oberst Georg Klein werden die nächsten Tage Spießrutenlaufen pur. Der Kommandeur des Bundeswehr-Lagers im nordafghanischen Kundus hat eine folgenreiche Entscheidung getroffen, die seit gestern die obersten Stäbe der Vereinten Nationen und der Nato in Alarm versetzt und sogar den Bundestagswahlkampf in eine neue Richtung schieben könnte. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob Dutzende Zivilisten, darunter auch Kinder, einen qualvollen Flammentod sterben mussten, weil die Bundeswehr US-Kampfjets anforderte, die zwei von den Taliban gekaperte Tanklastwagen bombardiert hatten.
Die Nachrichtenlage ist unsicher. Wie die WAZ jedoch aus verlässlichen Militärkreisen in Afghanistan und Berlin erfuhr, sollen in der Nacht zu Freitag gegen 2.30 Uhr rund 50 eindeutig von Spähern und Einheimischen als Taliban identifizierte Kämpfer sechs Kilometer vor dem Lager Kundus zwei voll beladene Tanklastzüge entführt haben, die für die Internationale Schutztruppe für Afghanistan (Isaf) bestimmt waren.
Nahe der Ortschaft Omar Khel seien die Taliban bei dem Versuch, ein Flussbett zu queren, mit den Lastern stecken geblieben. Um die Fahrzeuge wieder flott zu machen, hätten sie Treibstoff abgelassen. Nach vorheriger Aufklärung der örtlichen Gegebenheiten habe Oberst Georg Klein, zuständig für Kundus, im Isaf-Hauptquartier einen US-Kampfjet angefordert, um die Talibankämpfer durch einen Bombenangriff ausschalten zu lassen. Ein Vorgang, der nach Art und Dimension, für die Bundeswehr in Afghanistan bisher ohne Beispiel ist. Wissend um die Gefahr von Kollateralschäden, so ein Militär zur WAZ, habe Oberst Klein „nach allem, was wir bisher wissen, alle Anstrengungen unternommen, auszuschließen, dass Zivilpersonen von der Luftattak- ke in Mitleidenschaft gezogen werden können”.
Genau das soll nach bislang unbestätigten Angaben jedoch misslungen sein. Verschiedene afghanische Quellen, von Gouverneur Omar, über Polizeichef Jakubi bis hin zu einzelnen Dorfbewohnern, gaben gestern an, dass auch Dutzende Zivilisten gestorben sein sollen. Die Zahlen variieren von 40 zivilen Opfern bis hin zu 150. Dazu sei es so gekommen: Vom Lärm der feststeckenden Tanklastzüge aufgeschreckt, sollen etliche Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes in der Nacht herbeigeeilt sein, um sich Treibstoff abzuzapfen. In diesem Augenblick habe der US-Kampfjet die Laster in einem gewaltigen Feuerball aufgehen lassen.
Nach Bekanntwerden der Tragödie setzte die internationale Deutungsmaschinerie ein – nicht zum Vorteil der Bundeswehr. Nato-Generalsekretär Rasmussen kündigte eine Untersuchung an. Die Uno ließ ihr tiefes Bedauern durchblicken. Das Isaf-Hauptquartier in Kabul ging sogar auf Distanz zu Berlin. Man sei „zutiefst besorgt über das Leid, das diese Aktion unseren afghanischen Freunden bereitet haben könnte”, ließ sich Sprecher Tremblay vernehmen. Selbst Javier Solana, der oberste Diplomat der Europäischen Union, wurde eindeutig: „Es tut mir für die Familien der Menschen, die bei der Explosion getötet wurden, sehr leid.”
Der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Berlin blieb bei seiner detailfreien, kryptischen Darstellung. Der Luftangriff sei angeordnet worden, „weil keine unbeteiligten Zivilpersonen durch den Angriff hätten zu Schaden kommen können”. Begründung: „Bei anwesenden Zivilisten hätte der Luftangriff nicht stattfinden dürfen.”
Hinter vorgehaltener Hand berichten Bundeswehr-Offizielle in Afghanistan von paradoxen Reaktionen. „Die Zivilbevölkerung hat uns zu dem Luftangriff gratuliert. Er wird als Zeichen der Stärke gegen die Taliban gedeutet”, sagte ein Militär der WAZ. Andererseits nutze etwa die Volksgruppe der Paschtunen, aus denen sich die Taliban rekrutieren, den Fall, „um die Bundeswehr in die verhasste US-Besatzungsmacht einzugemeinden”. Doch das Bemühen, „die Bundeswehr als vorrangig am zivilen Wiederaufbau interessierte Truppe erscheinen zu lassen,” heißt es aus Kundus, „hat einen herben Rückschlag erlitten.”