Stockholm. Es gibt harsche Kritik innerhalb der EU am von der Bundeswehr angeforderten Luftangriff in Nordafghanistan. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob ein Ermittlungsverfahren gegen den verantwortlichen Offizier eingeleitet wird. Ein US-General bestätigt, dass es bei dem Angriff zivile Opfer gab.

In der Europäischen Union ist scharfe Kritik an dem von der Bundeswehr angeordneten Luftangriff in Afghanistan laut geworden. Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner sprach am Samstag beim informellen EU-Außenministertreffen in Stockholm von einem «großen Fehler». Einen Tag nach dem NATO-Angriff mit mindestens 50 Toten wurden nahe Kundus fünf deutsche Soldaten bei einem Anschlag verletzt.

"Wir müssen so etwas verhindern», sagte Kouchner zum NATO-Luftangriff vom Freitag. Die Strategie der internationalen Truppen in Afghanistan müsse sein, «mit dem afghanischen Volk zusammenzuarbeiten - nicht, es zu bombardieren», ergänzte der französische Chefdiplomat. Ein Ermittlerteam der NATO nahm unterdessen den Ort des tödlichen Vorfalls in Augenschein und besuchte Verletzte im Krankenhaus.

Gründliche Untersuchung gefordert

Kouchner betonte am Samstag in Stockholm, er wolle keine Schuld zuweisen, forderte aber eine gründliche Untersuchung. Der Luftangriff «ist eine der Grausamkeiten des Krieges». Sein luxemburgischer Kollege Jean Asselborn sprach von einer «Aktion, die nicht hätte stattfinden dürfen». EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner, Großbritannien und Italien pochten auf eine rasche Untersuchung, wie sie die NATO angekündigt hat.

EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner sprach von einer «großen Tragödie». Der schwedische Außenminister Carl Bildt erklärte, das tägliche Sterben in dem Konflikt müsse so stark wie möglich verringert werden.

Die Strategie in Afghanistan war zentrales Thema beim Treffen der EU-Außenminister. In einem internen Diskussionpapier räumte der schwedische EU-Ratsvorsitz Versäumnisse am Hindukusch ein. «Die mangelnde Zusammenarbeit der internationalen Gemeinschaft - gepaart mit fehlender Motivation und Fähigkeiten auf afghanischer Seite - sind verantwortlich für die langsamen und unsteten Fortschritte beim Wiederaufbau Afghanistans», heißt es darin. Die Außenminister verständigten sich darauf, im Kampf gegen die Korruption ihre Hilfen für Afghanistan von strengeren Regeln abhängig zu machen.

Krieg oder Kampfeinsatz?

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verglich die Gefährlichkeit der Bundeswehrmission am Hindukusch mit einem Kriegseinsatz. Wenn es «nur um die Gefährlichkeit geht, könnte man sagen: Ja, es ist Krieg», sagte er dem «Hamburger Abendblatt» vom Samstag. Da die Bundeswehr allerdings gegen Terrorismus kämpfe und nicht gegen einen anderen Staat, «sprechen wir nicht von Krieg, sondern von einem Kampfeinsatz». Den Luftangriff bezeichnete Steinmeier in der «Bild am Sonntag» als «sehr schwerwiegenden und gravierenden Vorfall».

Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) verteidigte das Vorgehen. Die Taliban hätten gedroht «auch und gerade vor den Bundestagswahlen Anschläge auf die Bundeswehr» zu verüben, sagte Jung am Freitag in der ARD. «Und deshalb war es eine sehr konkrete Gefahrenlage, wenn die Taliban in den Besitz von zwei Tanklastwagen gekommen sind, die hier erhebliche Gefahr für unsere Soldaten bedeutet haben.»

"Eventuelles Tötungsdelikt"

Die Staatsanwaltschaft Potsdam prüft, ob ein Ermittlungsverfahren gegen den verantwortlichen deutschen Offizier eingeleitet werden muss. «Wir prüfen einen Anfangsverdacht wegen eines eventuellen Tötungsdeliktes gegen den deutschen Oberst, der diesen Luftangriff befohlen beziehungsweise angefordert hat», sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Junker der «Bild am Sonntag».

Der Selbstmordanschlag am Samstag ereignete sich laut Bundeswehr um 9.55 Uhr Ortszeit fünf Kilometer nordöstlich von Kundus. Der Attentäter habe mit einem Fahrzeug eine deutsche Kolonne angegriffen und einen Sprengsatz ausgelöst. Im nahe gelegenen Bundeswehrstützpunkt sei die Wucht der Explosion zu spüren gewesen, meldete dort ein Journalist der Nachrichtenagentur AP. Ein Fahrzeug wurde beschädigt. Dabei wurden jüngsten Angaben des Einsatzführungskommandos in Potsdam zufolge fünf deutsche Soldaten und ein afghanischer Dolmetscher leicht verletzt. Bereits am Freitag war es zu einem Schusswechsel zwischen deutschen Soldaten und Aufständischen gekommen.

Die Bundeswehr hatte am Fraitag laut Verteidigungsministerium die NATO-Luftunterstützung nach einem Taliban-Überfall auf zwei ihrer Tanklastzüge angefordert, um einem Selbstmordanschlag auf die deutschen Truppen vorzubeugen. Der Bundeswehr zufolge wurden ausschließlich 57 Aufständische getötet. Der Gouverneur der betroffenen Region, Mohammed Omar, gab die Zahl der Opfer dagegen mit mindestens 72 an. Etwa 30 seien als Aufständische identifiziert worden.

McChrystal bestätigt Zivilisten unter Verletzten bei NATO-Angriff

Unter den Verletzten des jüngsten NATO-Luftangriffs in Afghanistan waren nach Angaben von US-General Stanley McChrystal auch Zivilpersonen. Der Oberkommandierende der US- und NATO-Truppen in Afghanistan sprach am Samstag bei einer Pressekonferenz in Kundus von einem «ernsten Vorfall», der zeigen werde, ob die NATO zu Transparenz bereit. Der Vorfall sei auch ein Test für die Bereitschaft der NATO zu zeigen, dass sie zum Schutz des afghanischen Volks im Land sei. «Es ist mir sehr wichtig, dass wir das wahr machen.»

Nach allem, was er vor Ort und im Krankenhaus gesehen habe, sei es eindeutig, dass Zivilpersonen zu Schaden gekommen seien. Auf die Frage, ob der Vorfall von der Internationalen Schutztruppe (ISAF) untersucht werde, sagte McChrystel: «Es wird eine Untersuchung geben. Meine Einschätzung ist, dass es eine ISAF-Untersuchung geben wird, und möglicherweise werden auch andere Nachforschungen anstellen.»

Zehnjähriger wollte Treibstoff abzapfen

Die Aufständischen hatten die Tanklastzüge an einem vorgetäuschten Kontrollpunkt etwa sieben Kilometer südwestlich des Bundeswehrstützpunktes gekapert. Der Angriff eines US-Kampfjets erfolgte 40 Minuten später gegen 02.30 Uhr Ortszeit. Bei den zivilen Opfern handelte es sich laut Polizei um Personen, die Treibstoff aus den Lastwagen abgezapft haben sollen.

Diese Angaben wurden am Samstag von einem verletzten Kind bestätigt. Er sei entgegen der Anordnung seines Vaters losgezogen, um Treibstoff zu sammeln, sagte der zehnjährige Mohammad Schafi, der im Krankenhaus in Kabul behandelt wurde. Er habe dann plötzlich einen lauten Knall gehört und könne sich an nichts mehr weiter erinnern. Journalisten sahen am Ort des Angriffs mehrere gelbe Kanister, von denen einige noch Treibstoff enthielten.

US-General Stanley McChrystal, der am Samstag an den Ort des Luftangriffs reiste, zeigte sich besorgt. Er hatte sich bemüht, Einsätze aus der Luft und die Zahl ziviler Opfer zu reduzieren. Nach US-Angaben sprach er mit dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai über den tödlichen Vorfall. Afghanische Behördenvertreter erklärten bei einem Treffen mit McChrystal ihre Unterstützung für das Vorgehen der Truppen. Der Vorsitzende des örtlichen Provinzrates, Ahmadullah Wardak, sagte, im Islam hätten Diebe alles verdient, was ihnen zustoße.

Im Osten Afghanistans wurde unterdessen ein polnischer Soldat getötet, wie das Verteidigungsministerium in Warschau am Samstag mitteilte. Fünf weitere wurden verletzt, als unter ihrem Fahrzeug eine Bombe explodierte. (afp/ap)