Witten. Beate Telgheder ist täglich auf Wittens Straßen unterwegs. „Für Blinde der Horror.“ Ein Führhund könnte ihr helfen. Doch den bekommt sie nicht.
Mobilität geht ihr über alles. Beate Telgheder fährt Bus und Bahn. So kommt sie nach Annen zum Arzt oder in die Wittener City. Aber auch andere Städte sind für sie nicht tabu. Die 59-Jährige ist blind und dennoch regelmäßig allein unterwegs. Doch inzwischen gerät sie an ihre Grenzen. Haltestellen, die nicht barrierefrei sind, machen ihr zu schaffen. Und einen Führhund lehnt ihre Krankenkasse ab. Von wegen Inklusion.
Beate Telgheder war 28 und extrem kurzsichtig, als die Netzhaut an manchen Stellen porös wurde und zu reißen drohte. Sie wurde gelasert, operiert, doch der Prozess war nicht zu stoppen. Innerhalb eines halben Jahres hat sie ihr linkes Auge verloren. Dort sitzt heute eine Prothese. Seit etwa fünf Jahren sieht sie auch auf dem rechten Auge gar nichts mehr.
Wittenerin engagiert sich im Blindenverein
Doch die Wittenerin ist keine, die sich unterkriegen lässt. „Ich bewege mich gern, geistig und körperlich.“ Beate Telgheder engagiert sich im Leitungsteam des Blinden- und Sehbehindertenvereins Witten und bald auch auf Landesebene. Sie spielt leidenschaftlich gern Akkordeon, tritt häufig bei Veranstaltungen auf. „Deshalb haben mich die Lockdowns während Corona fast umgebracht.“
Täglich ist die aktive Frau unterwegs – und stolz darauf, das zu schaffen. Dabei geht nichts ohne ihren Blindenstock. Sie besitzt mehrere Exemplare – die einen für asphaltierte Wege, andere fürs Gelände. Doch inzwischen reicht der Stock nicht mehr aus. „Alles, was sich bewegt, wird von ihm nicht erfasst.“ Ständig erlebe sie gefährliche Situationen. Das geht vor der eigenen Haustür los. Denn die Wittenerin lebt an der viel befahrenen Ardeystraße.
Haltestelle Ardeystraße: Keine Ampel, kein Zebrastreifen, keine Leitlinie
Stadt plant provisorische Verbesserungen
Bei einem Ortstermin mit dem Tiefbauamt der Stadt hat Beate Telgheder ihre Probleme als Blinde an den Haltestellen „Neuer Weg“ an der Ardeystraße geschildert.
Die Stadt plant nun in einem ersten Schritt provisorische Verbesserungen. So sollen taktile, also mit dem Blindenstock zu ertastende Elemente aufgebracht und der Bordstein passend zur Querungsinsel abgesenkt werden.
Damit die Busse an der Haltestelle in Richtung Hauptbahnhof nicht zu dicht an die Haltebucht heranfahren, an der es keinen Bürgersteig gibt, soll eine Bake installiert werden. Wann diese Veränderungen umgesetzt werden, ist noch unklar.
Die Treppen vom vierten Stock ihrer Wohnung runter auf den Hof sind kein Problem. Die paar Stufen zum Gehweg meistert sie bestens. Dann steht Beate Telgheder an der Hauptverkehrsstraße. Zielsicher geht sie weiter zur Haltestelle „Neuer Weg“. Will sie den Bus Richtung Innenstadt nehmen, muss sie die Straße überqueren. Ohne Ampel. Ohne Zebrastreifen. Ohne Leitlinien. Die Lage der Verkehrsinsel in der Mitte kann sie nur erahnen. Die Bordsteinkante ist nicht dort abgesenkt, wo sie geradeaus über die Insel auf die andere Seite käme.
Beate Telgheder lauscht. Sie hat gute Ohren, natürlich. Kommt ein Auto? „Ich würde jetzt gehen“, sagt sie und hält ihren weißen Stock waagerecht in die Höhe. Sie kann nur hoffen, dass das genug Aufmerksamkeit bei Autofahrern erregt. Denn Elektro-Autos hört sie nicht. Auch Radfahrer rasen geräuschlos heran. Schon mehrmals sei es fast zum Crash gekommen. Wind und Regen verschärfen die Situation.
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Auf der anderen Seite der Ardeystraße fehlt der Bürgersteig dann ganz. Es sind „die schlimmsten Haltestellen in der Stadt“, sagt die blinde Bürgerin, die sich deswegen schon ans Tiefbauamt gewendet und erfahren hat, dass ein barrierefreier Umbau noch in weiter Ferne liegt. Auch oben an der Holzkampstraße sei ein Überqueren der Straße schwierig. Dort stehen zwar Ampeln, allerdings ohne akustisches Signal.
Im Juni beantragte Beate Telgheder einen Führhund. Sie bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente, Blinden- und Wohngeld. „Ich fühle mich noch gut versorgt.“ Doch so ein gut ausgebildetes Tier koste um die 35.000 Euro. Die Krankenkasse lehnte den Antrag ab. Man sei nur für die Grundversorgung in einem Umkreis von zirka 500 Metern zuständig. Alternativ wird ihr eine Schulung zum Umgang mit dem Langstock angeboten – den sie bereits perfekt beherrscht. „Keiner hat sich meine Situation vor Ort angeschaut.“ Beate Telgheder legte Widerspruch ein.
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Sie testet andere Hilfsmittel. Die „Fledermaus“ ist ein Kasten, den man sich umhängt. Er schickt Signale aus und erkennt Hindernisse. Der „Feel-Space-Gürtel“ arbeitet wie eine Art Navi, das die Richtung anzeigt. Beide Mittel befindet die blinde Frau für ihren Alltag als untauglich, da sie Bewegungen nicht erfassen. „Nur ein Hund würde mir helfen, da er mein fehlendes Augenlicht ersetzt.“
Damit ihr nicht ständig angst und bange wird bei dem Gedanken daran, was alles im Straßenverkehr passieren könnte, hat Beate Telgheder eine eigene Technik entwickelt. „Mein Ziel ist es, immer die nächsten zehn Meter zu schaffen.“ Deshalb wird sie auch weiterhin Bus und Bahn nutzen. Zum Beispiel, um zu den Sitzungen des städtischen Arbeitskreises zu gelangen, der sich für mehr Inklusion einsetzt. Ein Stück weit, das spürt sie am eigenen Leib, bleibt ihr diese gerade verwehrt.