Bochum/Witten. Die Klassen groß, dass Personal dezimiert: Grundschulen leiden unter Lehrermangel. Eine Rektorin aus Bochum, die in Witten lebt, redet Klartext.

Es sind die radikalen Vorschläge, die Gehör finden. Als eine Grundschule im niedersächsischen Wiefelstede unlängst ankündigte, einen Unterrichtstag zu streichen, weil ihr Lehrer fehlten, berichteten Medien aus der ganzen Republik. Ähnlich erging es dem Leiter der Grundschule an der Maarbrücke in Bochum. „Schulleiter Sälzer zieht die Notbremse“, überschrieb der „Spiegel“ seinen Artikel, in dem dieser ankündigte, angesichts der Personalnot Klassen tageweise in den Distanzunterricht zu schicken. Beide Beispiele haben etwas gemein: Die Schulaufsicht schob den Ankündigungen einen Riegel vor – in Wiefelstede wird es keine Vier-Tage-Woche geben, an der Maarbrücke keinen Distanzunterricht. Und: Die markigen Ankündigungen sind Hilferufe aus einem System, das krankt.

Wittenerin fehlen unterm Strich fünf Vollzeitkräfte

„Ausfälle auf Dauer nicht aufzufangen“

Auch an einzelnen Grundschulen in Witten ist das Personal „so kurz auf knapp gestrickt, dass sie deutliche Probleme haben“, sagt Dörthe Diefenbruch, Sprecherin der 17 Grundschulen in der Ruhrstadt. Selbst wenn die Situation wie an ihrer Schule, der Pferdebachschule, noch „so sei, dass wir arbeiten können“ – in dem Moment, wo Kolleginnen wegen Schwangerschaft oder längerer Krankheit ausfielen, gebe es keine Reserve mehr. „Das macht einen doch unruhig“, sagt die 52-Jährige.

Anders als früher, als Schulen in Notfällen noch auf „Springer“ zurückgreifen konnten, seien einfach keine Lehrerinnen oder Lehrer mehr da, die im Fall des Falles einspringen könnten. Deshalb ließen sich längere Ausfälle auf Dauer nicht auffangen, so die Rektorin. Es gebe „definitiv nicht genug Lehrkräfte“. Der Versorgungsgrad der Grundschulen in Witten liegt bei 93 Prozent (Stand Dezember).

Ein „Handlungskonzept“ des NRW-Schulministeriums sieht verstärkt Seiteneinsteiger und studentische Hilfskräfte vor, die sich beim Schulamt um eine Stelle bewerben können. Dörthe Diefenbruch fordert auch, die Unis mehr in die Verantwortung zu nehmen. Um einfach mehr Studienplätze zu schaffen, solle man zumindest über den Numerus clausus bzw. dessen Höhe im Fach Erziehungswissenschaften nachdenken.

Was ehrenamtliches Engagement angeht: Auch in Witten sind Lesepatinnen- und Paten eng mit den Grundschulen verbunden. Seniorinnen und Senioren kommen vormittags in die Schulen oder später auch in die OGS, um mit den Kindern zu lesen.

Tanja Knopp, die sich 2021 in der SPD um das Bundestagsmandat für Witten beworben hatte und dabei gegen Axel Echeverria den Kürzeren zog, leitet seit 2015 die Gertrudisschule, eine Grundschule im Herzen von Wattenscheid. Viele der rund 340 Kinder, die dort lernen, sind arm, viele sind selbst zugewandert, sprechen zu Hause kein Deutsch, viele haben einen erhöhten Förderbedarf. Nur etwa 80 Prozent der pädagogischen Stellen seien aktuell besetzt, sagt Knopp. Anders ausgedrückt: Unterm Strich fehlen ihr rund fünf Vollzeitkräfte.

Wie sich die Lage gewandelt hat, verdeutlicht die 49-Jährige anhand ihres eigenen Werdegangs: „Als ich 2004 als Lehrerin hier zur Schule gekommen bin, gab es auf meine Stelle 428 andere Bewerbungen. 428!“ Jetzt gebe es ausgeschriebene Stellen, „auf die sich kein einziger bewirbt“.

Bis zu 30 Kinder in einer Klasse

Knopp erzählt vom Schulalltag, vom „Spagat“ ist da die Rede und davon, wie sie und ihre Kolleginnen und Kollegen sich strecken, um „die Versorgung der Kinder sicherzustellen“. Und diese habe ja drei Facetten, sagt Knopp: „Unterricht, Erziehung, Betreuung.“ In der Gertrudisschule lernen mitunter 30 Kinder in einer Klasse. Ihr Anspruch sei dieser: „Wenn wir komplett besetzt wären: Wie können wir die Kinder bestmöglich fördern?“

Seit Jahren nutzt die Schulleiterin daher jede sich bietende Möglichkeit, Hilfen jenseits des regulären Systems zu bekommen. Sie habe „ein Riesennetzwerk in die Stadt hinein“, sagt die Rektorin. „Das trägt Früchte, um Herausforderungen besser gegenüberzustehen.“ Dann zählt sie auf: „Schwimmassistenten“ verstärken und entlasten das Lehrpersonal beim Schwimmunterricht, Ehrenamtliche richten beim Projekt „Brotzeit“ das Frühstück für Kinder, in einer Technik-AG arbeiten Senioren mit Viertklässlern, Lesepatinnen und -paten unterstützen bei der Leseförderung. Und wer bereits mit der Schule in Kontakt sei, bringe sich vielleicht auch an anderer Stelle ehrenamtlich ein.

„Das Land kann ja auch nicht zaubern“

„Sicher wünsch’ ich mir ‘ne bessere Ausstattung an Personal“, sagt Tanja Knopp, „aber das Land kann ja auch nicht zaubern!“ Die Stellen gebe es ja. Aber wie auch in anderen Bereichen könnten sie nicht besetzt werden. „Wenn ich mir das gesamte System angucke: Bildung, Soziales, Gesundheit – dann hoffe ich, wir stehen am Abend der Revolution“, sagt die Schulleiterin und präzisiert: „Nicht Revolution im kriegerischen Sinne. Sondern Veränderung!“

Haben Sie denn noch Hoffnung, Frau Knopp? „Wenn ich keine Hoffnung mehr hätte, dann wäre ich nicht mehr in diesem Beruf“, sagt die Wittenerin, die für den VfL Bochum schwärmt. Sie glaube nach wie vor, etwas bewegen zu können. Im Kampf um die Köpfe, um zusätzliches Lehrpersonal hat sie eine Botschaft: „Es kann auch Freude machen, hier zu arbeiten!!