Oberhausen. In seiner Eröffnungsrede verweigert sich Festivalleiter Lars Henrik Gass der martialischen „Zeitenwende“: Die Kurzfilmtage sind „gegen Boykotte“.
Entrollte Transparente und entschlossene Schritte ans Rednerpult gehören durchaus zur Tradition der Kurzfilmtage: Auch zum Auftakt der 68. Festivalauflage kaperten höfliche Demonstranten die schmale Bühne im größten Saal der Lichtburg. Das Anliegen der Koalition zum Erhalt des Sterkrader Waldes – „Rettet unsere grüne Lunge von Sterkrade“ – zierte allerdings auch schon als unübersehbares Banner die Kurzfilmtage-Villa: ein Protest-Heimspiel, wenn man so will.
Vor zwei Jahren, zur Eröffnung der ersten digitalen Kurzfilmtage, überraschte Lars Henrik Gass sein Publikum an den PC-Monitoren mit einem Bilderrätsel aus Filmschnipseln – statt einer Eröffnungsrede. Doch die Zeit überpointierter Spitzen ist erst einmal passé mit der Eröffnung der 68. Kurzfilmtage, nun wieder in der vertrauten Lichtburg.
Auf der Kinoleinwand zeigten die den Grußworten und Reden vorangestellten Fernsehbilder von 1973 den womöglich bewegendsten Moment sämtlicher Oscar-Zeremonien: Anstelle von Marlon Brando, bester Hauptdarsteller in „Der Pate“, trat damals Sacheen Littlefeather in der strassglitzernden Variation eines traditionellen Apache-Kleids auf die Bühne. Die Schauspielerin und Aktivistin für die Rechte der ersten Amerikaner verlas jene Erklärung, mit der Brando seine Oscar-Trophäe ablehnte. Gastgeber Gass sah in diesem filmhistorischen Dokument den beispielhaften „Unterschied zwischen moralischem Affekt und politischer Aktion“.
600 kurze Filme aus über 70 Ländern
600 Filme aus über 70 Ländern und mehr als 800 akkreditierte Fachbesucher zählen nun wieder zum Großaufgebot der Kurzfilmtage. Gemessen an ihrem Umfang waren die ersten vier Online-Tage des Festivals (das noch bis zum 9. Mai zu erleben ist) dagegen nur ein Prolog. Doch gerade diesen „Strukturwandel des Festivals“ sieht Gass als bedeutsamen „Schritt zur Demokratisierung von Filmkultur“. Und in gewissem Sinne als Trendsetter: Der 56-Jährige verwies auf Messen wie die „Art Düsseldorf“, die sich inzwischen auch mit „hybriden“ Angeboten ausstattet. Denn schon vor der Pandemie drängten die planetarische Klimakrise und veränderte Arbeitsformen die „Event“-Veranstalter der unterschiedlichsten Kaliber dazu.
Von seinem erklärten Dauer-Streitthema, der Filmförderung und ihrer Ausgestaltung, mochte Lars Henrik Gass auch in diesem Jahr nicht lassen. Doch er erweiterte die Perspektive, sieht das „systemische Problem“ in einer Kulturförderung, die es schon lange nicht mehr wagt, Bestandsgarantien zu geben. Stattdessen müssen Kulturmacher in „eng getaktete Wettbewerbe“ treten. Lasst tausend Stilblüten schönster Antragsprosa blühen, gemäß der Frage: „Wer verkauft sich am besten?“
Andernorts in Europa gelingen neue Kinoräume
Das Debakel um den „Europapalast“, das auch die Kurzfilmtage für sich als weitere Spielstätte ersehnt hatten, erwähnte Gass nicht explizit. Aber er schilderte seinem Publikum, was andernorts geht: Etwa das in eine Schule im südenglischen Brighton integrierte Kino (plus „Rooftop Bar“) oder die Kinoräume in Hotels von Paris und Zürich, „wo die Gäste sich Filmgeschichte nach Belieben anschauen können“.
Schließlich ging’s um die martialisch intonierte „Zeitenwende“, der gegenüber Oberhausens Festivalleiter selbstbewusst eine „unzeitgemäße“ Position bezog. Gass verwies auf die große Tradition der „Wege zum Nachbarn“ und der von Hilmar Hoffmann praktizierten Annäherung, „zu der dieses Festival wohl einen der wichtigsten kulturellen Beiträge in der deutschen Nachkriegsgeschichte geleistet hat“. Das Team der Kurzfilmtage habe sich „nach internen Diskussionen“, so ihr Chef, „gegen Verlautbarungen und Boykotte entschlossen“.
Lars Henrik Gass erinnerte an den Besuch des großen russischen Filmemachers Alexander Sokurov, dessen „Sowjetische Elegie“ die 2019er Kurzfilmtage eröffnete. Im Gespräch mit dem Oberhausener Publikum hatte sich der inzwischen 70-jährige Sibirier damals sehr vorsichtig zum Charakter Wladimir Putins geäußert. Seine Filmkunst aber, so Gass, zeige „den Verfall der Sowjetunion wie in einem großen Tableau“. Mit kurzen Filmen von Algerien bis Vietnam zeige das nun 68-jährige Festival wieder „600 mal eine andere Sicht auf die Welt, die nicht nur eine Geschichte kennt“.