Bei der Ukraine-Hilfe ist Deutschland noch nicht in der neuen Welt angekommen. Warum tut sich die Bundesregierung damit so schwer?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat mit seiner „Zeitenwende“-Rede am 27. Februar international viel Anerkennung erfahren. Eine Schlüsselpassage: „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf. Ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts. Oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus. Ja, wir wollen und wir werden unsere Freiheit, Demokratie und unseren Wohlstand sichern.“
Die „eigene Stärke“ unterlegte der Kanzler mit zwei Zukunftsprojekten. Er versprach, „von nun an“ zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben. Ein Ziel, das lange Zeit umstritten war – vor allem in der SPD. Zudem kündigte Scholz ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Modernisierung der Bundeswehr an.
Ukraine: Bundesregierung zögert, wenn es ans Eingemachte geht
Mit klarer Sprache und konzeptionellem Weitblick hat Scholz die „Zeitenwende“ nach Russlands Einmarsch in die Ukraine formuliert. Aber was folgt daraus? Der Kanzler sagt: „In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie. Für Werte, die wir mit ihnen teilen.“ Wenn es stimmt, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Leben aufs Spiel setzen, um die westliche Idee von Selbstbestimmung gegen Putins brutale Aggression zu schützen, haben sie unsere Unterstützung verdient. Mit Waffen und mit harten Sanktionen gegen Russland.
Doch wenn es ans Eingemachte geht, bleibt die Bundesregierung merkwürdig zögerlich. Von der Ankündigung Ende Januar, 5000 Helme für die Ukraine zu liefern, bis zum derzeitigen Hickhack über die Entsendung von Bundeswehr-Panzern handelt die Koalition halbherzig. Grünen-Politiker wie Wirtschaftsminister Habeck oder Außenministerin Baerbock wollen die Ukraine möglichst schnell mit schweren Waffen ausstatten, der Kanzler bremst.
Das gleiche Bild bei Sanktionen. Wenn in Brüssel diskutiert wird, einen sofortigen Importstopp für russische Kohle zu verhängen oder wenigstens einen Monat lang auf Öl aus dem Osten zu verzichten, legen sich die Bedenkenträger aus Berlin quer. Und tragen so mit dazu bei, dass die EU Putins Kriegskasse pro Tag mit rund 700 Millionen Euro auffüllt.
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Deutschland tut sich mit der „Zeitenwende“ schwer
Die Wahrheit ist: Deutschland tut sich mit der „Zeitenwende“ schwer. Jahrzehntelang hat das merkantilistische Modell funktioniert: Rohstoffe wie russisches Gas wurden billig eingekauft, um weiterverarbeitete Produkte möglichst teuer zu exportieren – zum Beispiel nach China. Das schuf Wohlstand. Für den kraftvollen internationalen Politikauftritt und die militärische Sicherheit waren im Zweifelsfall die USA zuständig. Dies deckte sich mit dem pazifistischen Grundreflex in der Gesellschaft.
Spätestens seit der russischen Invasion ist dieses Koordinatensystem erschüttert. Es droht ein neues Zeitalter, in dem Autokraten und Diktatoren versuchen, an der regelbasierten internationalen Ordnung vorbei ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Diese Erkenntnis ist noch nicht überall in Berlin angekommen. Nachdem der lange Zeit auf Tuchfühlung zu Putin & Co. gehende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aus Kiew ausgeladen wurde, verteilen die Parteien eifrig Haltungsnoten Richtung Ukraine. Das Nein für die Steinmeier-Reise wird fast als eine Art Majestätsbeleidigung kritisiert. Diese Befindlichkeiten sind unangebracht. Die Ukraine ist ein Land, das militärisch überrannt wird und dem die Auslöschung droht. Sie hat von Deutschland jede Hilfe verdient. Es wäre ein Gebot der „Zeitenwende“.