Oberhausen. Bei seinen über 100 freien Mitarbeitern sieht sich das Festival in der Pflicht. Digital wollen die Kurzfilmtage ein Drittel des Programms retten.
„Kunstfragen werden zu Lebensfragen“, so zitiert Lars Henrik Gass den Schweizer Literaten Robert Walser (1878 bis 1956). Der Satz des Poeten steht für die Entschlossenheit des Leiters der Internationalen Kurzfilmtage, das 66. Festival zumindest in einer „alternativen Ausgabe“ aufleben zu lassen. Doch wie lässt sich in Zeiten der Corona-Krise, die Gass eine „gesellschaftliche Krise“ nennt, eine Alternative online gestalten?
Der 54-jährige Festivalchef nennt dies selbst „die spannendste Frage“ – und muss mit seinem Team unter steigendem Zeitdruck die Antworten finden, denn den Termin vom 13. bis 18. Mai will man auch für die Online-Kurzfilmtage halten. Gleich zum Auftakt jenes Pressegesprächs – das eigentlich angesetzt war, um das kommende Programm vorzustellen – hatte Gass auf die wichtigen „sozialen Fragen“ hingewiesen: Alljährlich beschäftigen die Kurzfilmtage in den Hochphasen der Vorbereitung und rund um die Festivaltage über hundert freie Mitarbeiter und kleine Unternehmen: von Fahrern bis zu Druckereien. Ihnen versicherte der seit 1997 verantwortliche Kufita-Chef: „Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, bislang eingegangene Verpflichtungen soweit wie möglich zu honorieren.“
Die Kurzfilmtage selbst sollen nicht in finanzielle Not geraten, hatte Kulturdezernent und Kämmerer Apostolos Tsalastras versichert. Die Finanziers von Bund und Land signalisierten bereits, Fördermittel nicht zurückzurufen: „Das ist schon mal eine große Hilfe“, so Tsalastras. Auch die Stadt stehe für ihre Kultureinrichtungen ein.
Preisgeber wollen auch bei Online-Verleihung mitmachen
Die Preisgelder von insgesamt rund 42.000 Euro sind zwar im Festival-Budget nur ein kleinerer Posten, doch Preisgeber hatten Lars Henrik Gass bereits bestätigt: Sie würden auch bei einer Online-Preisverleihung mitmachen.
„Wie gehen wir vor?“ Gass verweist auf die über hundert Programme, die für die 66. Kurzfilmtage angekündigt waren: vom zentralen Thema „Solidarität“ über die Profile für fünf Filmkünstler von Großbritannien bis Ruanda bis zu den Künstlerlaboren und Workshops. In den letzten Jahren waren die zweisprachigen Programmbücher mit über 400 Seiten zu Telefonbuchstärke angewachsen. „Alle 100 Programme haben wir in die Hand genommen“, sagt Gass, um sie unter dem Aspekt zu prüfen: Lassen sie sich mitsamt der Gesprächsformate ins digitale Format übernehmen – „oder müssen wir sie absagen“?
Diese Teil-Absagen treffen einige Programme, die dem Festivalleiter besonders wichtig waren – jene etwa, die in Oberhausen unter dem Begriff „conditional cinema“ Kino zum singulären Live-Erlebnis werden ließen: Wie Peter Miller, der vor zwei Jahren für sein fasziniertes Publikum in der Lichtburg Filmstreifen von Hand zu Hand durch den Kinosaal reichen ließ – in diesen Tagen ein undenkbarer Vorgang. Doch die „sensuelle und soziale Qualität bleibt wichtig“, betont Gass. „Wir wollen uns nicht provinzialisieren!“
Vorreiterrolle übernimmt „Go Short“ in Nijmegen
Das entschieden dem Experiment zugeneigte Festival erhalt so zwangsläufig eine „Schlagseite“ – hin zu jenen Formaten, die digital vorzeigbar sind. Das Positive: Digitale Vernetzung und der vergleichsweise geringe kommerzielle Druck machen den per Mail oder Link zugänglichen Kurzfilm eben zum nahezu universalen Ausdrucksmittel – und brachten im vorigen Jahr Preisträger aus Ländern hervor, die bisher auf der „Kino-Weltkarte“ unsichtbar waren. Auch darum bleiben die fünf Wettbewerbe der Wesenskern der Kurzfilmtage.
Wenn die Technik mitspielt. „Unsere Cloud-basierte Sichtungsplattform ist kein Streaming-Portal“, betont Gass. Sie muss in den wenigen nächsten Wochen für die höheren Anforderungen ertüchtigt werden. Die Vorreiterrolle übernimmt bereits vom 1. bis 5. April „Go Short“, das internationale Kurzfilmfestival in Nijmegen. Die Technik-Erfahrungen der niederländischen Nachbarn könnten fürs Kurzfilmtage-Team eine wertvolle Hilfe sein.
„Das ist nicht nur eine technische Frage“
Auch inhaltlich stellen sich für Online-Kurzfilmtage, die gut ein Drittel des ursprünglich vorgesehenen Programms zeigen könnten, neue Fragen: Man will sich ja anders darstellen als etwa Netflix, so der Festival-Leiter, „wo Sie mehr Zeit suchend verbringen als mit Gucken“. So wie kaum ein Kufita-Termin in der Lichtburg ohne Moderation oder Gesprächsrunden auskam – so soll auch das Online-Festival kuratiert sein. Gespräche mit Filmemachern ließen sich aufzeichnen oder live streamen.
Im Verbund der Festivals von A bis Z
Bestens vernetzt zeigt sich Lars Henrik Gass als Mitbegründer und Koordinator für die AG Filmfestival, ins Leben gerufen von den größten und ältesten Filmfestivals in Deutschland – inklusive der Berlinale – sowie Filmfestivals aus allen Regionen und Sparten.
Filmfestivals stehen am Beginn der Auswertungskette; sie begreifen sich als Teil der Filmwirtschaft sowie der Kino-Kultur und ihrer Vermittlung. Allein in Deutschland gibt es rund 400 Filmfestivals, weltweit mehrere Tausend.
Entsprechend lang von A wie „Achtung Berlin“ bis Z wie „Zebra Poetry Film Festival“ fächert sich die Mitgliederliste auf ag-filmfestival.de auf. Er habe „einen Informationsdienst eingerichtet“, erklärt Gass, „für den Wissenstransfer unter den Festivals“.
Zu finden ist auch noch eine neue Form für jene Programme, die für die Verbindung zwischen den Kurzfilmtagen und Oberhausens Stadtgesellschaft stehen. Lars Henrik Gass nennt sie „besonders sensibel und prekär“: nämlich „Anders sehen“ mit Terre des hommes und die „Oberhausen-Auswahl“ aus Seniorenheimen. Sie zu ermöglichen – „das ist doch nicht nur eine technische Frage“.