Mülheim. . Bereits 2008 hat das städtische Rechtsamt zu den Millionen-Verlusten der Stadt mit Zinswetten festgestellt, dass Ex-Kämmerer Gerd Bultmann und leitende Finanzbeamte ein „erhebliches Mitverschulden“ an dem Wettdebakel haben. Die WAZ hatte auf Akteneinsicht geklagt.
Die lange von der Stadt unter Verschluss gehaltenen Gutachten aus 2008 und 2009 zum Mülheimer Zinswetten-Debakel offenbaren, dass das städtische Rechtsamt ein „erhebliches Mitverschulden“ der eigenen Beamten für die Millionenverluste festgestellt hat. Dies hat nun die Akteneinsicht der WAZ ans Tageslicht gebracht, die das Rechtsamt nach zweieinhalbjährigem Rechtsstreit nun gewähren musste.
In den Gutachten, mit denen das städtische Rechtsamt die Frage nach etwaigen Haftungsansprüchen der Stadt gegenüber den Wettpartnern (Commerzbank, West LB) und den verantwortlichen Beamten aus den eigenen Reihen geprüft hatte, sind äußerst pikante Aussagen zu finden, die das Rechtsdezernat bis heute in öffentlichen Stellungnahmen vermieden hatte.
Mit dem Rücken zur Wand
Pikant sind jene Feststellungen vor allem mit Blick darauf, dass der Stadtrat in der kommenden Woche darüber entscheiden soll, ob Mülheim kurz vor Eintreten der ersten Verjährungen nun doch eine allumfassende Schadenersatzklage gegen die Banken anstrengen soll. Es geht um mehr als 10 Mio. Euro bereits angelaufene Verluste, hinzu kommt nach WAZ-Berechnungen ein Verlustrisiko aus weiter bestehenden Wettverpflichtungen in fast gleicher Höhe.
Rückblende: Im Sommer 2004 stand die Stadt nach nicht mal einem halben Jahr der Wetterei, damals mit der Commerzbank, erstmals mit dem Rücken zur Wand. Sie hatte sich auf eine Wette in Abhängigkeit der Entwicklung zweier Interbanken-Zinssätze (Euribor und Schweizer Libor) eingelassen. Eine „überraschende“ Leitzinserhöhung durch die Schweizer Nationalbank brachte das Derivatgeschäft zum Wackeln, schließlich in die Verlustzone.
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Im Dezember 2004 zog das Zentrale Finanzmanagement der Stadt, das seinerzeit unter der Verantwortung von Kämmerer Gerd Bultmann agierte, die Reißleine und ließ sich – folgenschwer – auf ein Angebot der West LB zur Umstrukturierung ein. Die ehemalige Landesbank war bereit, gegen Abschluss einer neuen Zinswette das Verlustrisiko aus dem Commerzbank-Deal (1,274 Mio. Euro) zu übernehmen. Auf Basis eines 170-Millionen-Euro-Kredits schloss die Stadt einen Korridor-Swap ab.
Stadt hat "erhebliches Mitverschulden"
Innerhalb eines turbulenten Jahres 2005 folgten zwei weitere Umstrukturierungen, mit denen sich die Stadt am eigenen Schopfe immer weiter in den nicht mehr zu bändigenden Strudel hineinzog. Immer schmaler wurden die Zinskorridore, die der Stadt blieben, um vielleicht doch noch als Profiteurin aus den Geschäften zu kommen. Am Ende, das ist bekannt, war Mülheim in den Korridoren eingeklemmt. Teuer wurde der Befreiungsschlag, zu dem Bultmann-Nachfolger Uwe Bonan notgedrungen ansetzte.
Haben die Banken – nachweisbar – nicht anlegergerecht beraten? Oder haben gar Mülheims ehemaliger Kämmerer und/oder die Verantwortlichen im Zentralen Finanzmanagement grob fahrlässig zu Lasten ihrer Dienstherrin gehandelt? Nein, lautet im Ergebnis die Antwort der städtischen Gutachten aus 2008 und 2009 auf diese Fragen. Und doch fehlt es den Gutachten nicht an brisanten Aussagen, etwa jener, dass die Stadt „ein erhebliches Mitverschulden“ an dem entstandenen Schaden treffe.
Stadt bevorzugte Risikovariante
Das Rechtsamt macht dies etwa daran fest, dass die West LB vor dem letzten Umstrukturieren der Korridor-Swaps wohl gewarnt hatte. Sie habe für die Korridor-Swaps „erhebliche Risiken“ aufgezeigt und auf „deutlich risikoärmere Umstrukturierungsmöglichkeiten“ hingewiesen.
Zwar erwähnt das Gutachten die Einschätzung, dass die Bank schon mit ihrem Angebot von „Modellen mit spekulativem Charakter“ eventuell die zuvor vertraglich fixierte Risikobereitschaft der Stadt und das kommunalrechtliche Verbot solch hochspekulativer Geschäfte missachtet habe, doch heißt es auch: „Protokolle der vorhergehenden Beratungen sind nicht vorhanden, aber der mit der West LB geführte Schriftverkehr legt den Schluss nahe, dass von städtischer Seite die risikoreichere Variante bevorzugt wurde.“
Gutachten sieht keine grobe Fahrlässigkeit
Ausufernde Zockermentalität also bei den verantwortlich Handelnden der Stadt? Im Zweitgutachten erkennt das Rechtsamt im Wirken der eigenen Kollegen keine beamtenrechtlich zu sanktionierende grobe Fahrlässigkeit. Vor ihrer Entscheidung hätten sich Kämmerer Bultmann und leitende Finanzmanager schließlich „von mehreren Banken beraten lassen“, seien „zwar ein recht hohes, aber kein unbegrenztes Verlustrisiko eingegangen“ und hätten mit den weiteren Umstrukturierungen erklärtermaßen das Ziel verfolgt, das Risiko zu streuen.
Den Umstand aber, dass die Beamten um Ex-Kämmerer Bultmann die laut Mahnung der West LB erheblich risikoreicheren Wetten abgeschlossen haben, wird vom Rechtsamt in seinem 2009er-Gutachten nicht umfassend beleuchtet. Gab es etwa Empfehlungen anderer Banken genau für diese Geschäfte, worauf sich die städtischen Entscheidungsträger hätten stützen können?
Lückenhafte Dokumentation
Auch nicht rechtlich bewertet wird der Umstand, warum die Geschäfte im Finanzmanagement offenbar derart lückenhaft dokumentiert sind, dass sich die Stadt 2008 nicht in der Lage sah, eine gleichwohl nicht ausgeschlossene Falschberatung durch die Banken im Zweifel vor Gericht nachweisen zu können.
Dass dem Ex-Kämmerer und den Finanzmanagern vom Alt-Gutachten des Rechtsamtes ein „erhebliches Mitverschulden“ angelastet wird, hat Rechtsdezernent Dr. Frank Steinfort in seinen Stellungnahmen in politischen Gremien, auch gegenüber dieser Zeitung nie öffentlich bekannt. Er hatte in den vergangen Jahren reichlich Gelegenheiten dazu.
Fachanwalt für Kapitalmarktrecht: „Gutachten doch sehr oberflächlich“
Für eine Bewertung der städtischen Gutachten hat die WAZ einen Experten des Kapitalmarktrechtes zu Rate gezogen. Mit Blick auf eine mögliche Schadenersatzklage der Stadt gegen die Banken sagt er: „Die Gutachten erfassen den Sachverhalt doch sehr oberflächlich und berücksichtigen noch nicht ansatzweise die spätere Entwicklung der Rechtsprechung.“ Natürlich aber sei damit zu rechnen, dass die Banken im Falle einer Klage versuchen dürften, sich veröffentlichte Aussagen aus den Gutachten zunutze zu machen.
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Dass nun pikante Details aus der bislang geheim gehaltenen stadteigenen Begutachtung der Wettgeschäfte von 2008/09 öffentlich werden, ist laut dem Fachanwalt zweifelsohne nicht förderlich für eine mögliche Mülheimer Klage auf vollen Schadenersatz. Insbesondere in erster oder zweiter Instanz dürfe die Stadt nicht davon ausgehen, dass „ein Richter so tief in der Materie ist“, dass er die Oberflächlichkeit damaliger Feststellungen erkenne.
Die Aussage, die Mülheimer Gutachten kratzten nur an der Oberfläche, will der von der WAZ zu Rate gezogene Fachanwalt ausdrücklich nicht als Vorwurf verstanden wissen. Ein Rechtsamt sei nun mal Generalist, kein Spezialist. Für ein aussagekräftiges Gutachten insbesondere zu den Fragen, ob eine Bank anlegergerecht über die Risiken der Derivatgeschäfte und über den ihnen innewohnenden Interessenkonflikt aufgeklärt habe, gehöre zwingend eine finanzmathematische Analyse.
"Banken haben die Sauerei gemacht"
Nur so sei etwa zu erkennen, ob und in welchem Ausmaß die Wetten schon von Beginn an zu Lasten der Stadt strukturiert worden seien. Mülheim hätte deshalb besser schon 2008 ein Fachgutachten in Auftrag geben sollen. Der Experte vermutet, dass die Stadt 2008 davon abgesehen habe, um die Angelegenheit aus der öffentlichen Debatte herauszuhalten.
Der Rechtsanwalt für Kapitalmarktrecht glaubt Mülheim derweil weiterhin im guten Recht, auf Schadenersatz zu klagen. „Die Banken haben die Sauerei gemacht. So wie sie die Geschäfte strukturiert haben, war es eine systematische Schröpfung der Kommunen.“