Mülheim. .
Kurz vor der Finanzausschuss- und möglicherweise entscheidenden Ratssitzung in der nächsten Woche scheint eine Trendwende in der millionenschwere Frage möglich, ob die Stadt für ihre alten Zinswettgeschäfte mit der West LB und Commerzbank doch Haftungsansprüche erkennen will. Die Düsseldorfer Kanzlei Baum, Reiter & Collegen ist laut Rechtsdezernent Dr. Frank Steinfort aufgefordert, angesichts jüngster Gerichtsentscheidungen ihr Gutachten zu überdenken. Überraschend erkennt auch die Stadt an, dass das externe Gutachten „ausführlicher“ hätte sein können (Steinfort).
Alles soll nun ganz schnell gehen. Noch, sagt Steinfort, habe die Düsseldorfer Kanzlei nicht nachgelegt. Man hoffe aber, die überprüfte Meinung der Kapitalmarktexperten schon am Montag der Finanzpolitik präsentieren zu können. Mülheims Politik hat für eine endgültige Beschlussfassung am kommenden Donnerstag im Rat bisher nur eine Empfehlung vorliegen, die eine Schadenersatzklage gegen die Banken zu den von Ex-Kämmerer Gerd Bultmann zu verantwortenden Wetten zwischen 2003 und 2007 wegen „überwiegender“ Prozessrisiken ausschließt. Es geht bei diesen Derivatgeschäften um einen bereits eingetretenen Wettverlust von 6,083 Mio. Euro, aber auch, wie in dieser Woche berichtet, um ein millionenschweres Verlustrisiko einer sogenannten Swaption. Das ist eine Option auf eine Zinswette, die allein die West LB bzw. ihre Rechtsnachfolgerin im Jahr 2016 für die Dauer von zehn Jahren ans Laufen bringen kann. Eine WAZ-Modellrechnung für die Wette hat, wäre sie in den vergangenen zehn Jahren zum Tragen gekommen, einen Verlust von 5,147 Mio. Euro ergeben.
Es muss eine Entscheidung getroffen werden
Die Politik hat in einem kaum zu überschauenden Wettenwirrwarr eine schwere Entscheidung zu fällen: Nimmt sie die Verluste mit Groll über eigene Versäumnisse bei der Kontrolle der Verwaltung und politischen Beschlüssen hin oder schöpft sie aus der jüngsten Entwicklung der Rechtsprechung Mut, das Gutachten von Baum, Reiter & Collegen in einigen wesentlichen Aussagen kritisch zu hinterfragen und die Fachanwälte aufzufordern, offensichtliche Lücken in der Behandlung rechtlicher Aspekte inhaltlich zu füllen?
Es lohnt ein Blick in die Kleinstadt Ennepetal am südöstlichen Rand des Ruhrgebietes. Sie hat im April vor dem Landgericht Düsseldorf einen beachtlichen Klageerfolg gegen die West LB erreichen können, der in der bisher wenig ausgereiften Rechtsprechung zu Haftungsansprüchen bei Derivatgeschäften das Zeug hat, weitaus bessere Klageaussichten für die zuhauf von Banken über den Tisch gezogenen Kommunen verspricht.
"Ausdruck eines schwerwiegenden Interessenkonfliktes der Beklagten"
In dem richtungsweisenden Urteil, das der WAZ vorliegt, wird der Stadt Ennepetal nahezu ohne Einschränkungen ein Schadenersatzanspruch für die Verluste aus mehreren Zinswetten mit der West LB zuerkannt. Als Begründung führt das Gericht eine nicht objektgerechte Beratung durch die Bank an. So habe diese auch bei mäßig riskanten und einfacher strukturierten Wettgeschäften zwingend darüber aufzuklären, wenn „der von ihr empfohlene Vertrag zum Abschlusszeitpunkt – unstreitig – einen negativen Marktwert aufwies“. Kläre eine Bank darüber im Vorfeld nicht auf, werde der Wettpartnerin eine maßgebliche Information zur Beurteilung der Risiken vorenthalten. Schließlich sei der negative Marktwert „Ausdruck eines schwerwiegenden Interessenkonfliktes der Beklagten“. Sie habe Geld zu Lasten Ennepetals verdient, obwohl sie verpflichtet gewesen sei, die Stadt so zu beraten, dass deren Interesse (ein möglichst hoher Gewinn) nicht gefährdet gewesen wäre.
Das ist für Mülheim ein Fingerzeig. Das Gutachten der Kanzlei Baum, Reiter & Collegen erkennt zwar in drei wesentlichen Mülheimer Fällen ebenso, dass weder die Commerzbank noch die West LB die Stadt über die den Wetten innewohnenden negativen Marktwerte bei Vertragsbeginn aufgeklärt haben, zieht daraus erstaunlicherweise aber nicht den Schluss, dass alleine dies Schadenersatzansprüche begründen könnte.
Nicht nur in dieser Frage gibt es Klärungsbedarf. Laut Aussage der Münchner Kanzlei Rössner deutet sich in dem von ihr verantworteten Klageverfahren zu den Zinswetten-Verlusten der Stadt Hückeswagen an, dass das Landgericht Köln möglicherweise auch dem Spekulationsverbot für Kommunen in einer Entscheidung Gewicht beimessen könnte.