Mülheim. Unfall im Firmenwagen, betrunken: Jürgen G. verlor den Führerschein, doch der Tiefpunkt kam später. In Mülheim trainiert er jetzt für die MPU.
An einem Freitagabend im Jahr 2019 verschuldete Jürgen G. (Name geändert) einen Verkehrsunfall. Er steuerte einen Firmenwagen, betrunken. Es entstand nur Blechschaden, wofür er bis heute dankbar sein kann. Doch seinen Führerschein musste er abgeben. Um jemals wieder ein Auto lenken zu dürfen, muss Jürgen G. durch die MPU.
Der Vater fast erwachsener Kinder ist einer von vielen. Die Stadt Mülheim hat nach eigenen Angaben allein im Jahr 2022 in insgesamt 232 Fällen ein medizinisch-psychologisches Gutachten gefordert, weil Zweifel an der Kraftfahreignung bestehen. Die Gründe können unterschiedlich sein: Die meisten fahren unter Einfluss von Drogen wie Cannabis, wiederholt betrunken oder mit mehr als 1,6 Promille Alkohol im Blut, andere haben acht oder mehr Punkte in Flensburg, treten aggressiv auf oder haben eine Straftat im Straßenverkehr begangen.
In Mülheim wurden 2022 mehr als 150 Führerscheine entzogen
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Insgesamt 62 Führerscheine hat die Stadt selber im vergangenen Jahr entzogen, 90 weitere das Amtsgericht, 88 Personen haben im Verfahren freiwillig auf ihre Fahrerlaubnis verzichtet. Nicht in jedem Fall ist eine MPU erforderlich, um den Führerschein wieder zu bekommen. Falls jedoch ein Gutachten verlangt wird, folgt ein langer, hürdenreicher Weg, der auch ins Geld geht. Jürgen G. ist ihn angetreten, inzwischen hat er die Kraft dazu. „Ich bin suchtkrank, Alkoholiker“, sagt der große, breite Mann im fein gestreiften Businesshemd. „Ich habe viele Jahre getrunken.“
Unterstützung findet er in einem Haus gleich neben der katholischen Kirche St. Joseph in Mülheim-Heißen. Hier sitzt die psychosoziale Beratungsstelle der Caritas, ganz in der Nähe hält die U11 - praktisch für Jürgen G., der auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist. Die Beratungsstelle ist für Suchtkranke und Angehörige da, und im Rahmen dieser Arbeit gibt es auch Kurse speziell zur Vorbereitung auf die MPU. Etwa 25 Betroffene meldeten sich jährlich, schätzt Caritas-Beraterin Astrid Blasius. Eine lange Warteliste hätten sie nicht, bis zum ersten Termin könne es allerdings zwei bis drei Wochen dauern.
Crash mit dem Dienstwagen - doch befürchtete Kündigung blieb aus
Jener Freitagabend, an dem es krachte, war für Jürgen G. „schon ein Schock“, doch lange nicht der Wendepunkt. Den Unfall mit dem Dienstwagen musste er montags seiner Firma melden und erwartete sofortige Entlassung. Doch es habe keine Konsequenzen gegeben, außer dass er für den Schaden aufkommen musste. „Es gab nur ein kurzes Gespräch.“ Er habe sofort wieder getrunken.
Dass er wegen seines Alkoholkonsums den Job verlor, längere Zeit arbeitslos war, kam erst später. Im Lockdown habe er extrem getrunken, berichtet Jürgen G.: „Meine Kinder haben den Kontakt zu mir gänzlich abgebrochen. Das war der komplette Tiefpunkt und einer der Hauptgründe, warum mir klar wurde: Du musst jetzt was tun.“ Seit 16 Monaten sei er entgiftet und trocken, habe einen neuen Job gefunden und von Anfang an seine Situation offengelegt: wie sich die Lücke im Lebenslauf erklärt, warum er keinen Führerschein mehr besitzt. „Das hat sehr gut getan.“
MPU-Vorbereitung ist auch bei der Caritas kostenpflichtig
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Genau das empfehlen die Caritas-Beraterinnen den Suchtkranken auch im Familien- und Freundeskreis, ebenso für das psychologische Testgespräch im Rahmen der MPU: „Seien Sie offen und ehrlich. Spielen Sie mit offenen Karten. Die Leute, die alles auf den Tisch gelegt haben, haben es in der Regel geschafft.“
Jürgen G. will seine Alkoholkrankheit unbedingt in den Griff bekommen, will trocken bleiben, nach Möglichkeit lebenslang. Unterstützen soll ihn eine Langzeittherapie nach der Entgiftung, zudem besucht er eine Selbsthilfegruppe. Die MPU-Vorbereitung in der Caritas-Beratungsstelle umfasst ein kostenloses Infogespräch, gefolgt von einem Aufbauseminar, in der Regel mit 15 Einzelsitzungen, die Geld kosten, ebenso wie weitere individuelle Termine. Genaue Preise nennen die Beraterinnen nicht, versichern aber: „Wir sind deutlich günstiger als alle anderen.“
Abstinenznachweis: Alle drei Monate werden Haarproben analysiert
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Außerdem muss Jürgen G. über ein ganzes Jahr einen Abstinenznachweis erbringen, alle drei Monate eine Haarprobe analysieren lassen. Dies sei beim Tüv oder bei der Dekra möglich, er gehe aber direkt zu einem Labor, wo es ihm günstiger erscheint: 65 Euro je Probe. Er berichtet von sichtbaren Veränderungen in seinem Leben, teilweise erzwungen, dennoch gewinnbringend. So habe er sich ein E-Bike gekauft, das Radfahren tue ihm gut. Die Wege zur Arbeit mit Bus und Bahn, mit dem Deutschlandticket: „Ideal. Ich muss keinen Parkplatz suchen.“ Noch wichtiger für ihn als gestrauchelten Vater: „Der Kontakt zu meiner Tochter ist wieder hergestellt und jetzt besser als früher.“
Einen Termin für die MPU hat er noch nicht. Im Vorbereitungskurs werden auch Prüfungsgespräche simuliert. Sperrige Fragen sind zu befürchten, Astrid Blasius nennt ein Beispiel: „Was könnte ein Signal dafür sein, dass Sie wieder gefährdet sind?“ Jürgen G. würde die Frage mit einer Beschreibung seines früheren Trinkmusters beantworten. Er habe sich sehr isoliert, komplett zurückgezogen, Probleme mit sich alleine ausgemacht. „Ich wäre früher nie auf die Idee gekommen, mir Hilfe zu suchen.“
Warnung vor Anbietern, die mit Erfolgsgarantie werben
Es gibt neben der Caritas etliche Anbieter in Mülheim und Umgebung, die MPU-Vorbereitung im Programm haben. Wahlweise findet man Verkehrspsychologen, psychologische Berater, Therapeutinnen, die einzeln oder in Gruppen schulen. Die Auswahl kann schwer fallen. „Es gibt solche und solche“, sagt Astrid Blasius, „auch schwarze Schafe.“ Wovor immer wieder gewarnt wird und auch die Caritas-Fachfrauen warnen: Anbieter, die mit 100-prozentiger Erfolgsgarantie werben. Oder damit, ihre Kunden in acht Wochen durch die MPU zu bringen, was schon rein praktisch nicht funktionieren kann. Regina Wedeking stellt fest: „Viele Menschen lassen sich auf dubiose Dinge ein, in der Hoffnung, dass sie ihren Führerschein schnell wiederbekommen.“ Viele brauchen ihn auch beruflich.
Das passiert bei der MPU
Die Neuerteilung der Fahrerlaubnis müssen Betroffene bei der Führerscheinstelle beantragen. Diese kann anordnen, dass eine MPU notwendig ist - unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. Fahrt mit 1,6 Promille oder mehr) ist dies zwingend.
Wer unter Cannabiseinfluss fährt, verliert fast immer den Führerschein und wird zur MPU geschickt. Aktuell gilt ein extrem niedriger Grenzwert für die THC-Konzentration im Blut - viele Fachleute empfehlen, ihn „angemessen“ heraufzusetzen.
Die Begutachtungsstelle kann man frei wählen. Die MPU umfasst drei Teile: medizinische Untersuchung, psychophysiologische Leistungstests (u.a. Reaktionstest) und psychologisches Untersuchungsgespräch.
Wie viele schaffen es nach dem Kurs bei der Caritas in Mülheim? Die Beraterinnen sprechen von einer „guten Erfolgsquote“. Zwar erfahren sie nicht von jeder Person, wie es gelaufen ist, „aber 80 Prozent bestehen auf jeden Fall“.