Mülheim. Die ruppige Trinkerszene in Mülheims City ist ein Mix harter Schicksale. Warum ein Streetworker glaubt, dass sich die Menschen bald zerstreuen.

Die öffentliche Trinkerszene in Mülheim trifft sich momentan rund um den Schloßstraßen-Kiosk, versorgt sich bevorzugt im Netto-Discount, hatte früher andere Treffpunkte, etwa den Kurt-Schumacher-Platz. Es sind Leute darunter, die streiten, schimpfen und gewalttätig werden, aber auch Menschen, die still am Rand sitzen und trinken. Wer vorbeigeht, nimmt meist nur die Lauten wahr und die Begleiterscheinungen, wie Uringeruch auf der Treppe zur Tiefgarage.

Über die Szene auf der Schloßstraße gibt es viele Beschwerden, niemand möchte die Suchtkranken in der Nähe haben. Aber wo sollen sie bleiben? Wer sind die Menschen, die sich täglich hier versammeln und Seite an Seite betrinken? Wer ist ansprechbar, wenn sie Hilfe brauchen?

Auch Jugendliche gehören zur Szene auf der Mülheimer Schloßstraße

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Um das herauszufinden, kann man auf die Gruppe zugehen, die Leute fragen - doch nicht alle wollen reden. An diesem Spätnachmittag halten sich vor dem Lederwarengeschäft acht bis zehn Männer auf, einige sind noch Jugendliche. Häufig sitzen auch Frauen hier, an diesem Tag fehlen sie, warum auch immer. Es ist ein Kommen und Gehen, zwei Jungs haben Fahrräder dabei. Ein Mountainbike kippt um, eine alte Dame fährt mit ihrem Rollator dagegen und schimpft. Ein junger Mann hebt das Rad auf, entschuldigt sich, ein anderer raunt aus dem Hintergrund: „Das war doch Absicht.“

Manche sind aufgebracht, einer besonders. Er hat einen dicken Hals, die Adern schwellen an. Die Berichterstattung dieser Redaktion macht ihn wütend, die Zeitung habe die Gruppe „in den Dreck gezogen“, findet er. Erbost läuft er hin und her, der Ton wird lauter, die Stimmung aggressiv. An der Haltestelle Stadtmitte sitzen Wartende. Sie schauen herüber.

„Die Polizei wird ohne Grund gerufen“

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Kurz vorher war schon wieder Polizei da, auch darüber schimpft der zornige Mann, weil er findet, „die Polizei wird ohne Grund gerufen“. Wer sie diesmal alarmiert hat, kann hier keiner sagen. Was passiert ist, erschließt sich vage: Einer mit Tourette-Syndrom sei durchgedreht, erzählt jemand, andere hätten sich eingemischt… Ein ganz normaler Tag auf der Schloßstraße in Mülheim.

Ein Mann kommt näher. Er möchte reden. „Ich lebe seit zehn Jahren auf der Straße.“ Er sei jetzt 45 Jahre alt, schlafe draußen. Gelegentlich habe er in der Notunterkunft an der Kanalstraße übernachtet, „aber da wird man nur beklaut“. Ein anderer, älterer, schwerer Mann sitzt auf der Baumumrandung. Er hat eine halb geleerte Weinflasche in der Hand und eine Aktentasche zwischen seinen Füßen stehen. Der Mann ist freundlich, er sagt, er sei 58 Jahre alt und erst kürzlich zur Clique auf der Schloßstraße gekommen. „Ich habe meine Arbeit, meine Frau, meine Kinder verloren.“ Die Wohnung? Noch hat er sie. „Aber die Kündigung liegt schon vor.“

Ein Mann kommt frisch aus dem Krankenhaus: „Ich hab mein Leben im Griff“

Ein junger Mann kommt dazu, er wirkt zappelig, möchte sich mitteilen: „Ich habe mein Leben im Griff.“ Er sei berufstätig, momentan allerdings krank geschrieben. „Ich bin gerade im Krankenhaus. Hatte eine OP.“ Er zieht seine Kappe, präsentiert einen Verband, der rund um seinen Kopf gewickelt ist, und später noch einen Defibrillator unter der Haut seiner schmalen Brust. „Ich hab mir mein Herz kaputt gemacht mit Amphetaminen.“ Mit dem Trinken habe er vor Kurzem erst angefangen, so erzählt es der Mann mit dem Kopfverband, „und wenn ich aus dem Krankenhaus komme, möchte ich eine Therapie beginnen.“

Gibt es jemanden hier in der Stadt, der vorbeikommt, sich kümmert, bei Bedarf hilft? „Diakonie“, sagen zwei Männer unisono. Ein Streetworker sei regelmäßig da, „der spricht seine Pappenheimer hier jeden Tag an“.

Streetworker der Diakonie sind täglich in der Innenstadt unterwegs

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Gemeint sind Jonathan Dreisbach und sein Kollege Lukas Brockmann, Streetworker der ambulanten Gefährdetenhilfe der Diakonie. „Wir steuern gezielt Wohnungslose an und alkoholkranke Menschen“, sagt Dreisbach. Daneben gebe es die mobile Jugendarbeit mit besonderem Blick auf junge Leute. „Da sich die Szenen stark vermischen und die Leute zum Teil im Konflikt liegen, sind wir regelmäßig im Austausch mit dem Ordnungsamt“, schildert der Sozialarbeiter.

Speziell die untere Schloßstraße beschreibt er als „sehr gemischten Treffpunkt“, wo sich auch Menschen aufhalten, die eine Wohnung haben und einen Job. Teilweise seien Drogenabhängige darunter. „Aktuell ist die Szene dort sehr groß und über den Sommer noch mal gewachsen.“

Anträge werden notfalls auf offener Straße ausgefüllt

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Die Streetworker sprechen Menschen, die in Wohnungsnot sind, gezielt an, schlichten Streit. „Wir sind Mediatoren in Konfliktsituationen“, sagt Jonathan Dreisbach. Teilweise würden Menschen an andere Anlaufstellen vermittelt - Tagesaufenthalt, Notschlafstellen, sogar Suchtkliniken. „Da finden auch tagtäglich Beratungsgespräche auf der Straße statt, teilweise geht es so weit, dass Anträge auf der Straße ausgefüllt werden, wenn Menschen schon der Weg in die zentrale Beratungsstelle zu weit ist.“

Der Streetworker vermutet aus Erfahrung, dass der Trinkertreff in der kalten Jahreszeit stark schrumpfen wird. „Im Winter hält sich da kaum noch jemand auf, selbst der harte Kern sitzt da nicht das ganze Jahr.“ Doch bis dahin würden die Leute wohl bleiben. Der Treffpunkt sei zentral, die Einkaufsmöglichkeiten (bei Netto) günstig, das Sehen und Gesehenwerden spiele ebenfalls eine Rolle. „Man kennt sich und grüßt sich, darum ist der Platz sehr beliebt“, stellt Jonathan Dreisbach fest. Alternativen seien häufig erörtert worden, jedoch: „Man kann den Leuten nicht aufdiktieren, wo sie sich zu treffen haben.“

Hinweis auf öffentliche Toiletten im Rathaus - meist ohne Erfolg

Wenn man die Trinkenden auf der Schloßstraße fragt, was die Situation entschärfen könnte, antwortet der 58-Jährige, der gerade seine Arbeit verloren hat: „Es müsste einen Platz geben, wo auch die Mädels, die hier hinkommen, zur Toilette gehen können.“ Beim Bäcker gegenüber koste es jedes Mal 50 Cent. „Und dann muss man halt überlegen, zahle ich für die Toilette oder hole ich mir ein Bier?“ Streetworker Dreisbach sagt zu diesem Punkt: „Es gibt öffentliche Toiletten im Rathaus, auf die wir immer wieder verweisen.“ Meist erfolglos.