Mülheim. Die Statistik 2020 besagt, dass in Mülheim mehr Menschen durch Alkohol und Heroin gestorben sind. Für die Fachleute sind die Zahlen weniger klar.
Die Zahl der Drogentoten in Mülheim ist deutlich gestiegen. Das teilte jüngst die Krankenkasse IKK classic mit und berief sich auf aktuelle Daten des Statistischen Landesamtes NRW. Demnach sind 2020 insgesamt 33 Menschen durch illegale Drogen wie Heroin sowie legale Drogen wie Alkohol gestorben. Im Jahr zuvor waren es laut IKK 23. Die Corona-Pandemie sei ein Grund dafür, hieß es. Die Mitarbeiter der Mülheimer Alkohol-Suchtberatungsstellen allerdings erkennen diesen Trend nicht. Für sie ist es ein Rätsel, wie die Zahlen zustande gekommen sind.
„Wir haben erheblich Zweifel daran, dass sie richtig erfasst worden sind“, sagt Kirsten Kreft, die bei der Caritas für den Bereich Soziale Teilhabe und Integration zuständig ist. Zwar habe die hauseigene Suchtberatungsstelle für Alkoholkranke deutlich mehr Zulauf, seit Corona ausgebrochen ist. Der Lockdown habe fraglos zu höherem Konsum geführt. Aktuell machten sich viele Betroffene auf den Weg, um wieder aus der Misere herauszufinden. Doch von viel mehr Todesfällen wisse man bei der Caritas nichts, so Kreft. „Das kann höchstens bei den Menschen der Fall sein, die nirgends in Behandlung sind.“
Offene Sprechstunde im Mülheimer Ambulatorium ist „pickepackevoll“
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Ähnliches ist zu vernehmen von Birgit Hirsch-Palepu, Geschäftsführerin der Mülheimer Diakonie. „Wir können nicht bestätigen, dass es coronabedingt mehr Alkoholtote gegeben hat.“ Die Anfragen in der Suchtberatungsstelle seien allerdings stark gestiegen – „wegen Lockdown, Homeoffice, Kurzarbeit und vor allem wegen Einsamkeit haben die Menschen häufiger zu legalen Suchtmitteln gegriffen“. Die Offene Sprechstunde im Ambulatorium sei „pickepackevoll“. Im Vergleich zu den Vor-Corona-Jahren hätten im vergangenen Jahr rund 13 Prozent mehr Menschen Rat gesucht – „und die Tendenz ist steigend“.
Man sei froh, so Hirsch-Palepu, dass man auch während der strengen Lockdown-Phasen immer weiter habe beraten können, „wir konnten die Menschen in dieser Zeit ja nicht allein lassen“. Mit etwas Fantasie habe man unorthodoxe Formen der Hilfe entwickelt: „Zum Beispiel eine To-go-Beratung beim Spaziergang.“
IKK: 1,8 Prozent aller Mülheimer Todesfälle waren 2020 auf Suchtmittel zurückzuführen
Um die jüngst bekanntgegebenen Zahlen näher zu erläutern, hatte die IKK auch mitgeteilt, wie sich die 33 Todesfälle aufschlüsseln: 28 Menschen hätten ihr Leben durch den Konsum von Alkohol verloren (2019 seien es 21 gewesen) und fünf Menschen durch illegale Drogen (2019 zwei). 1,8 Prozent aller Todesfälle in Mülheim seien 2020 auf Suchtmittel zurückzuführen gewesen – im Jahr zuvor hingegen nur 1,1 Prozent.
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Wie das Statistische Landesamt von Todesfällen erfährt, erläuterte Stadtsprecher Volker Wiebels auf Nachfrage: „Das läuft über das Gesundheitsamt. Dieses erhält Totenscheine von allen Menschen, die hier gestorben sind und deren Tod im Standesamt beurkundet wurde.“ Diese Urkunden anonymisiere man und übermittle dem Statistischen Landesamt monatlich Kopien. Die Auswertung sei unproblematisch, solange auf den Totenscheinen Eindeutiges wie „Tod durch Überdosis“ steht. Doch oft, so Wiebels, notierten die Ärzte nur eine Diagnose wie „Herzinfarkt“ – ohne eine dahinterliegende Alkoholerkrankung aufzudecken. Die Zahlen seien also nicht allumfassend. Sie könnten deutlich höher liegen als jetzt veröffentlicht.
Die Awo zählt jeden Verstorbenen – auch wenn die Sucht nicht
Dass es schwierig ist mit verlässlichen Todeszahlen im Bereich Suchtmittel, zeigt auch folgendes Beispiel: Laut polizeilicher Kriminalitätsstatistik hat es 2020 keinen einzigen Toten in der Mülheimer Drogenszene gegeben. Laut IKK waren es fünf. Und laut Michaela Rosenbaum, Geschäftsführerin der Awo, sogar zehn. Das verwirrt, lässt sich aber zum Teil aufklären: Die Awo nämlich, die mit dem Café Light, der Drogenberatungsstelle und der psychosozialen Beratung Anlaufstelle für täglich einige Dutzende Drogenkranke und Substituierte ist, zähle jeden ihrer Klienten, der stirbt. „Auch diejenigen, die nicht mit Nadel im Arm entdeckt wurden, sondern zum Beispiel geschwächt durch Vorerkrankungen gestorben sind.“
2020 habe man sich von zehn Menschen verabschieden müssen, 2021 von zwölf und in 2022 bereits von fünf. Man könne den Trend, den die IKK ausgemacht hat, bestätigen. „Die Zahlen steigen.“ Rosenbaum allerdings kann nur Angaben machen zu Klienten „jenseits der 50“. Jüngere Drogenabhängige bekomme man kaum mehr zu Gesicht: „Die beschaffen sich alles übers Darknet, konsumieren zu Hause.“
Kontakt zu den Klienten ist in der Coronazeit zum Teil abgerissen
Laut IKK-Pressereferent Michael Lobscheid ist die Pandemie ursächlich für den Anstieg der Drogentoten: „Viele suchtkranke Menschen sind in eine verstärkte Lebenskrise geraten, gewohnte Strukturen sind von einem Tag auf den anderen weggebrochen.“ Laut Rosenbaum war es beispielsweise ungünstig, dass man den Klienten fortan Besuchszeiten fürs Café Light vorgeben musste. Das habe manchen ganz vom Besuch abgehalten. „Es ist Ausdruck ihrer Krankheit, dass sie sich schlecht an festgelegte Zeiten halten können.“ So seien Kontakt zu Einzelnen abgebrochen, „niemand hatte sie mehr im Blick“. Diese Entwicklung habe sich leider in höheren Todeszahlen niedergeschlagen.
Am 21. Juli ist Gedenktag der Drogentoten. Im Café Light wollen sie der verstorbenen Weggefährten gedenken. Für jeden, der gegangen ist, steht im Innenhof des Drogenhilfezentrums ein individuell gestalteter Gedenkstein.