Mülheim. Ab 2026 sollen alle Kinder einen Platz im Offenen Ganztag bekommen können. Mülheims Träger schlagen Alarm: Das System sei schon jetzt gefährdet.
22 Grundschulen, 6402 Schülerinnen und Schüler, 109 Gruppen im Offenen Ganztag und eine Betreuungsquote von rund 45 Prozent – das ist die aktuelle Bilanz, die die drei OGS-Träger Diakonie, Caritas und Stöpsel e.V. vorlegen. Verbunden damit eine eindringliche Warnung. „Wir steuern auf eine Katastrophe zu“, findet Georg Jöres (Caritas) mit Blick auf den ab 2026 in Kraft tretenden Rechtsanspruch auf einen OGS-Platz deutliche Worte. Ab dann sollen zunächst alle Erstklässler, sukzessive auch die älteren Grundschulkinder eine ganztägige Förderung erhalten können. Für die Träger steht fest: Es besteht Handlungsbedarf, die Lage sei schon jetzt teilweise prekär.
Erst kürzlich verkündete Schuldezernent David Lüngen, zum neuen Schuljahr rund 280 zusätzlichen Kindern eine Betreuung nach Schulschluss zu ermöglichen. Zehn neue OGS-Gruppen an sechs Schulen. „Das ist ein Zuwachs, den wir so noch nie hatten“, ordnet Diakonie-Geschäftsführerin Birgit Hirsch-Palepu ein. Dennoch: „Die Finanzierung erfolgt durch unzureichende Finanzmittel.“
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Stadt Mülheim gibt keine zusätzlichen Finanzmittel für neue OGS-Gruppen
Ein Zugewinn zwar, aber zu welchem Preis? Die zehn neuen Gruppen werden durch Landeszuschüsse und Elternbeiträge finanziert. „Die Stadt Mülheim gibt nichts dazu“, so Hirsch-Palepu. Auf eine neue Gruppe komme so eine 0,8 Stelle für die Betreuung. „Und das ist schlichtweg zu wenig“, sagt Vanessa Opua, Vorstandsmitglied von Stöpsel e.V. „Wie sollen 25 Kinder mit nicht mal einer ganzen Stelle angemessen betreut werden?“
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Dezernent Lüngen hatte angekündigt, die Mehrbelastung durch studentische Hilfskräfte und Minijobber auffangen zu wollen. „Aber“, so Benedikt Maas (stellvertretender Geschäftsführer Diakonie), „wir müssen schon jetzt sehr stark darauf setzen. Uns fehlen die qualifizierten Fachkräfte.“ Gerade aus der Pandemie kommend, wiesen viele Kinder einen erhöhten Bedarf an sozialer und emotionaler Kompetenzförderung auf. Mit Hilfskräften und ständig wechselndem Personal sei das kaum zu stemmen. Zum Vergleich: Vor Jahren noch kamen auf eine OGS-Gruppe 1,5 Stellen, dann 1,2 und bei den neuen Gruppen eben nun nicht mal mehr eine Vollzeitstelle.
Offener Ganztag in Mülheim: „Die Qualität sinkt“
„Das ist kein guter Ganztag mehr, die Qualität sinkt. Unsere Mitarbeitenden machen einen tollen Job, aber eben nur im Rahmen der kleinen Möglichkeiten“, sagt Birgit Hirsch-Palepu. „Mülheim hatte immer den Anspruch, nicht nur eine reine Verwahrung anbieten zu wollen, sondern auch ein Bildungsangebot zu liefern, ähnlich wie ein Hort.“ Doch die entsprechenden Mittel, diesen Anspruch bei steigender Nachfrage durch immer mehr berufstätige Eltern auch weiterhin zu halten, sei die Stadt nicht bereit zu investieren. „Als das OGS-Budget vor Jahren um 1,2 Millionen Euro gekürzt worden ist, hieß es, dass das Geld in den Ausbau fließe“, so Georg Jöres. „Davon ist aber nichts zu merken.“
Einige der Schulleitungen, die zu Standorten der zehn neuen Gruppen zählen, sollen schon ihren Unmut geäußert haben. „Im Prinzip fühlen sie sich mit einem niedrigen Personalschlüssel dafür bestraft, den Ausbau mit in die Tat umzusetzen“, gibt Jöres einen Einblick in die aktuelle Stimmungslage. Für die rein rechnerisch bis 2026 noch 1155 fehlenden OGS-Plätze, also etwa 45 Gruppen, fehle die Perspektive. „Es gibt schon erste Vorschläge, ein solidarisches System aufzubauen, in dem die Stellen aller Schulen in einen Topf wandern und nach Bedarf aufgeteilt werden“, erklärt Georg Jöres. „Und auch die Doppelnutzung von Schulräumen für den Ganztag nach dem Bonner Modell ziehen wir in Betracht.“
Mülheimer Träger sehen große Entwicklungsdefizite bei Kindern
Auch wenn 2026 noch fern scheint, „wir müssen jetzt handeln“, appelliert Birgit Hirsch-Palepu. Ein frühes Konzept und eine hinreichende Finanzierung durch Bund und Land könnten das System vor einem erheblichen Bruch bewahren. „Wir brauchen eine gemeinsame Strategie, um mit dem Land ins Gespräch zu kommen“, nennt Benedikt Maas eine der zentralen Forderungen der Träger. „Und dafür braucht es zeitnahe, regelmäßige Gespräche mit der Politik, damit der Gesprächsfaden nicht abreißt.“
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„Am Ende des Tages“ – und das sei der Knackpunkt – „sind die Kinder die Leidtragenden“, stellt Hirsch-Palepu fest. „Und dabei haben sie nur das Beste verdient.“