Mülheim. Schulschwänzer in Mülheim werden jünger. Im laufenden Schuljahr gab es schon 56 Bußgeldverfahren. Schulen wollen drastische Maßnahmen verhindern.
Drei minderjährige Schülerinnen und Schüler sind im vergangenen Jahr von Mitarbeitern des Ordnungsamts zu Hause abgeholt und zum Unterricht gebracht worden, im Jahr zuvor waren es sechs. Das hat eine Auswertung im NRW-Landtag ergeben. Die so genannte zwangsweise Zuführung gilt als das allerletzte Mittel, wenn schulpflichtige Kinder und Jugendliche dauerhaft schwänzen. Doch was genau muss passieren, dass es soweit kommt? Und wie ist es zu erklären, dass Städte mit ähnlicher oder höherer Einwohnerzahl wie Leverkusen, Herne und Bochum zum Teil jahrelang keinen einzigen derartigen Fall zu verzeichnen hatten?
„Die Zahl der Fälle sagt manchmal mehr über das Anzeigeverhalten aus“, sagt Brita Russack vom Schulamt der Stadt Mülheim. Die Leiterin des Bildungsbüros hat täglich mit dem Thema Schulabsentismus zu tun und ist im engen Gespräch mit den Mülheimer Schulen. Sie weiß: „Wenn Kinder dem Unterricht fernbleiben, kann das viele Gründe haben. Dass sie beim Stoff nicht mitkommen, ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Dahinter kann auch eine psychische Erkrankung stecken, das Austesten von Grenzen oder auch Schulangst. Die ist seit Corona ein viel größeres Thema und beginnt schon in der fünften und sechsten Klasse und nicht erst in der Pubertät.“ Schulangst, das bedeutet seit Corona etwa, nicht mehr in der Klassengemeinschaft bestehen zu können, den Rückzug in die Familie vorzuziehen.
122 Fachkräfte leisten Sozialarbeit an Mülheims Schulen
Der Umgang mit Schulverweigerern ist ein Thema, das zunächst einmal in der Hand der Schulen liegt. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin schwänzt, sind die Schulen verpflichtet, ein vermittelndes Gespräch zu führen. Im nächsten Schritt soll die Schule frühzeitig Experten wie Schulsozialarbeiter oder den Schulpsychologischen Dienst hinzuziehen.
In dem Bereich ist Mülheim vergleichsweise gut ausgestattet. Für 38 Schulstandorte stehen 122 Experten auf zusammengerechnet 100 Vollzeitstellen zur Verfügung. Eine Hauptschule verfügt über sieben Schulsozialarbeiter. Brita Russack weiß auch: „An einer anderen Schule gibt es sogar einen Schulsozialarbeiter, der gefährdete Schüler morgens einsammelt und sich erstmal zur Kaffeerunde mit ihnen trifft.“
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Wenn auch die Ansprache durch Experten nichts bringt, leitet die Schule eine Ordnungsmaßnahme ein. In dem Fall droht Eltern ein Bußgeld, Schüler ab dem vollendeten 14. Lebensjahr werden selbst zur Verantwortung gezogen. In Härtefällen kann es auch vor den Jugendrichter gehen, der Sozialstunden verordnet. Im noch laufenden Schuljahr kam es bislang 56 Mal zu Bußgeldverfahren wegen Schulpflichtverletzungen. 47 Mal waren die Kinder unter 14, neun Mal waren sie älter. Zum Vergleich: Im gesamten Schuljahr 21/22 gab es insgesamt 133 Fälle, im Schuljahr 20/21 waren es 104 Fälle. Ganz wichtig: Die Zahlen beziehen sich jeweils auf Grund-, Förder-und Hauptschulen. Für alle anderen Schulformen ist die Bezirksregierung zuständig, die keine gesonderte Auswertung für Mülheim nachhält.
An den Schulen zeichnet sich ein Wandel ab
Erst wenn auch das Bußgeld oder Sozialstunden keine Wirkung zeigen und weiter geschwänzt wird, steht morgens das Ordnungsamt vor der Tür. Wie wirkungsvoll das dann noch ist, kann Brita Russack nicht sagen. Sie weiß jedoch: „Die wichtigste Arbeit geschieht an den Schulen.“ Die Schulen selbst müssten ein Konzept entwickeln, in dem klar festgelegt wird, wie das Lehrpersonal mit Schulabsentismus umzugehen hat, wann was passiert. Das muss auch an die Familien kommuniziert werden. Darüber hinaus spricht Brita Russack von einer „Willkommenskultur“ für Rückkehrer. So gebe es Konzepte, in denen Mitschüler dabei helfen, im Stoff aufzuschließen. „Wer zurückkommt, muss sich willkommen fühlen. Die Botschaft muss sein: Schön, dass du wieder da bist“, sagt Brita Russack.
An den Schulen sei viel passiert. Die grundsätzliche Haltung sei heute eine andere. „Es gibt nicht mehr die Überzeugung: Sieh zu, dass du mitkommst. Es geht vielmehr darum, alle mitnehmen zu wollen. Das ist eine grundsätzliche Entscheidung der Schule.“ Dass dies den Lehrerberuf vor neue Herausforderungen stellt, wird damit klar.
Warum steht in anderen Städten nicht das Ordnungsamt vor der Tür?
Und wie ist es nun zu erklären, dass es in Städten wie Leverkusen und Bochum deutlich seltener bis gar nicht dazu kommt, dass das Ordnungsamt morgens vor der Tür steht, um Schüler zum Unterricht zu fahren? Laut der Expertin kann dies auch mit der Länge der bürokratischen Wege zu tun haben. Wenn es lange dauert, sei aus Sicht der Lehrer möglicherweise der pädagogische Effekt der Maßnahme nicht mehr sehr hoch.