Mülheim. Brot, Obst und Gemüse, um über die Woche zu kommen – das verteilt die Mülheimer Tafel an Bedürftige. So viele Lebensmittel-Tüten gehen raus.

Die Menschenschlange im Hof der Georgstraße 28 ist lang, am Ziel, unter dem schützenden Dach, wartet die Ausgabestelle der Mülheimer Tafel vom Diakoniewerk Arbeit & Kultur. Wer hierher kommt, bringt Geduld mit, bewegt sich schubweise nach vorne, bleibt in der zunehmenden Kälte bei einsetzendem Nieselregen immer wieder stehen, hat das Gesicht hinter einem Mund-Nasenschutz versteckt. Ein paar Leute unterhalten sich, ansonsten ist es erstaunlich ruhig. Manche haben einen Einkaufstrolley dabei, denn was sie hier an Obst und Gemüse sowie Brot oder Joghurt mitnehmen, muss für eine ganze Woche reichen. Für einige ist die Essensausgabe der Tafel die einzige Chance, zu überleben.

Der 66-jährige Werner D. winkt beruhigend ab: „Für mich ist das ja nur übergangsweise“, sagt er und schließt die kleine Lücke zum Vordermann. „Mein Rentenantrag ist noch nicht durch, mit meinen zwei Schwestern lieg ich im Erbschaftstreit.“ Er zuckt die Achseln. „Wenn du zweimal im Grundbuch stehst, kriegst du keine Sozialhilfe.“ Deshalb kommt er seit einem Jahr hierher und ist froh, dass es die Tafel gibt, sie hat ihn gerettet. „Mir tun nur die Ukrainer leid“, äußert er sich im Bewusstsein, dass mit dem neuen Jahr für ihn der wöchentliche Gang zur Tafel nicht mehr nötig sein wird, für andere aber schon.

Zur Mülheimer Tafel kommen jede Woche um die 1000 Menschen aus der Ukraine

Aus der Ukraine stehen viele hier in der mal 30, dann wieder über 80 Menschen umfassenden Menge, wöchentlich sind es mehr als 1000 ukrainische Geflüchtete. „Seit Corona mussten wir einiges ändern“, erläutert Dominik Schreyer, Geschäftsführer des Diakoniewerks, die aktuellen Regeln. Die Lebensmittel werden in vorgepackten Tüten ausgegeben, über 3000 davon gibt die Tafel laut Schreyer Woche für Woche aus. „Das ist eine Tafel ohne Bürokratie. Anmelden mit einem Ausweis, das war’s. Wenn die Leute sich selber als bedürftig einstufen, reicht das. Ich halte das auch für den richtigen Weg, das hat was mit Würde zu tun.“

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„Morgens ab 7.30 Uhr fahren unsere Autos raus und sammeln die Sachen ein. Das Erste ist die Brötchentour, danach klappern sie die Supermärkte ab und die verschiedenen Händler, die was abgeben. Die drei Fahrzeuge steuern pro Woche über 200 Abholstellen an, wo sie Sachen einsammeln, und fahren zu über 200 Lieferstellen, wo sie die Tüten abgeben. Der Lieferdienst kam erst durch Corona zustande, Schreyer hat bis heute daran festgehalten. Denn gerade Ältere, weiß der Geschäftsführer des Diakoniewerks, geben zu, dass sie sich aus Scham nie in die Schlange stellen würden, die Lieferungen aber nehmen sie gerne an. „Die Ausgabe an der Georgstraße ist dann immer von 11 bis 16 Uhr, montags bis freitags.“ Die Termine sind im Minutentakt vergeben, deshalb geht es beständig voran. Anmeldungen sind per Telefon, E-Mail oder persönlich möglich.

Feste Termine zum Abholen der Lebensmitteltaschen bei der Mülheimer Tafel

„Wenn jemand seine Tasche nicht abholt, seinen Termin nicht wahrnimmt, ohne uns Bescheid zu sagen, wird er von der Liste gestrichen. Der bekommt keine Sperre, kann sich wieder neu anmelden. Das System sorgt aber auch dafür, dass immer mal wieder was frei wird, dass wir immer wieder neue Menschen hier anmelden können. Dadurch kriegen wir auch die Menschen rausgefiltert, die mal ein, zwei Wochen da sind, und dann nicht mehr kommen, denen das gar nicht so wichtig war. Die würden sonst den Termin blockieren, und wir müssten die Tasche, die für sie vorgesehen war, im schlechtesten Fall wegschmeißen.“ Allerdings kämen regelmäßig einige „Stammkunden“, die nach 16 Uhr gucken, ob noch was übrig ist.

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„Seit dem Ukraine-Krieg“, weiß Schreyer zu berichten, „kommen mehr Hilfsbedürftige, und sie sind jünger geworden. Mitte bis Ende 20, Anfang 30, da haben wir einige dabei. Manche kommen noch in ihrer Arbeitskleidung, und manchmal holen auch die Großeltern stellvertretend für die Kinder was ab, die nicht zugeben wollen, dass sie was brauchen.“

64-jähriger Arbeitsloser aus Mülheim steht im Nieselregen vor der Tafel an

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„Die Tafel ist eine nette Hilfe, schon Brot und Aufschnitt helfen, gerade Ende des Monats“, gibt die dreifache alleinerziehende Mutter Christina (35) zu, die ihren Sohn Jeremias (3) im Buggy vor sich her schiebt. Sie ist gelernte Sozialhelferin, hat im Corona-Testzentrum gearbeitet. Seit das geschlossen ist, ist sie auf Arbeitssuche. „Hier ist eine nette Atmosphäre, ich shoppe hier gerne. Man findet auch immer jemanden zum Quatschen.“

Der vor ihr stehende Jürgen (64) hat gerade eben das vor Regen schützende Vordach erreicht. „Die Tafel ist eine sehr gute Unterstützung“, sagt er und erzählt von seinem Problem. Mit 18 ist er bei der Maurerlehre aufs Handgelenk gefallen, seither mache ihm die Hand Probleme. „Das Handgelenk musste vor zehn Jahren eingesteift werden.“ Lkw ist er gefahren, aber das ging dann nicht mehr. Jetzt sucht er Arbeit, macht sich aber wenig Hoffnung. „Wer nimmt mich denn schon?“, fragt er und hält wie zum Beweis seine steife Hand hoch.

Dominik Schreyer, Geschäftsführer des Diakoniewerks, im Lager der Mülheimer Tafel.
Dominik Schreyer, Geschäftsführer des Diakoniewerks, im Lager der Mülheimer Tafel. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Auch Orhan (37) aus Mazedonien sucht dringend Arbeit, sein Job als Gabelstapelfahrer wurde nach der Probezeit nicht verlängert – warum, weiß er nicht. Seit 2011 lebt er in Mülheim, ist seit drei Jahren verheiratet, doch seine Ehefrau kann immer nur zu Besuch kommen, das Ehepaar wartet auf die offizielle Familienzusammenführung. Bis dahin müssen sie sich mit ihren Besuchen begnügen, dann muss sie wieder in die mazedonische Heimat reisen. „Wir telefonieren viel“, sagt Orhan, „sonst wird’s schwierig als Paar. Man muss doch reden, wenn man sich schon nicht sieht.“

Mitarbeiterin der Mülheimer Tafel ist selbst auf Unterstützung angewiesen

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Manche kann auch Dominik Schreyer beschäftigen, einige davon in einer geförderten Maßnahme. Michaela (50) gehört seit 2017 zum Team, sie hat zuvor bei „Netto“ gearbeitet, bis ihre Hand operiert werden musste. 2016 begleitete sie ihre Freundin im Hospiz in den Tod, seither ist sie psychisch belastet und leidet unter Panikattacken, wie sie offen erzählt. „Die anderen hier wissen Bescheid“, sagt sie erleichtert. „Die können damit umgehen und wissen, was zu tun ist. Das hilft ungemein.“

Auf die Unterstützung der Tafel ist sie gleichwohl trotzdem angewiesen, hat als Mitarbeiterin Anspruch auf drei Tüten pro Woche. „Ich nehme aber nicht alle“, verrät sie, „ich verzichte immer mal wieder und überlass meinen Anteil lieber denen mit vielen Kindern.“ Ihre eigene Tochter ist längst erwachsen und benötigt Michaelas Unterstützung nicht. Die Frau mit der schwarzen Kurzhaarfrisur und dem kecken lila Tuch strahlt Optimismus aus, wenn sie von ihrer Hoffnung spricht, „auf dem Arbeitsmarkt doch noch mal Fuß fassen zu können“.

Bedürftigen Mülheimerinnen und Mülheimern wollen wir mit unserer diesjährigen Jolanthe-Benefiz-Aktion helfen. Der Erlös daraus kommt in Zusammenarbeit mit dem Mülheimer Arbeitslosenzentrum (Malz) Menschen zugute, die beim Malz in der Beratung sind und deren Hilfsbedürftigkeit bekannt ist. Viele von ihnen gehen zur Tafel und nutzen die Unterstützung, um über die Runden zu kommen. Unser Jolanthe-Konto: DE05 3625 0000 0175 0342 77, Sparkasse Mülheim.