Mülheim. Kein warmes Essen, das Licht bleibt aus, die Heizung auch – alles zu teuer. Wie eine Mülheimerin mit ihrer kleinen Rente über die Runden kommt.

Weihnachten wird wohl einsam und trist werden für Renate S. Ihre erwachsenen Söhne haben andere Pläne. Wie auch sollte die 56-Jährige ihre Kinder zum Fest einladen? Sie lebt von einer Erwerbsminderungsrente, hat weniger als das Existenzminimum. Schöne Feiertage? Angesichts der Energiekrise und explodierender Lebensmittelpreise wird daraus nichts, zumindest nicht für Renate S. Seit Monaten schon kocht sie nicht mehr, sondern ernährt sie sich hauptsächlich von Brot mit Marmelade und schaltet in ihrer Wohnung kein Licht mehr an, aus Sorge, zu viel Strom zu verbrauchen.

„Kerzen? Damit es gemütlich wird?“, Renate S. scheint diesen Gedanken beinahe absurd zu finden. Kurz denkt die 56-Jährige nach und sagt dann entschieden: „Nein, dafür nutze ich meine Kerzen nicht, die hebe ich auf für den Fall, dass mir der Strom abgestellt wird.“ Nach all den Jahren, gar Jahrzehnten, die Renate S. mit wenig Geld auskommen musste, ist sie auf alles gefasst – kürzlich kam wieder eine E-Mail vom Stromanbieter: Sie liege mit ihren Kosten bis Ende November bereits 280 Euro drüber, müsse sich auf eine Nachzahlung einstellen. „Was ist, wenn ich die nicht bezahlen kann“, fragt Renate S., die eigentlich anders heißt, aus Scham über ihre Situation aber nicht erkannt werden will. Das Szenario vom abgestellten Strom scheint gar nicht so weit weg.

Mülheimerin bekommt 850 Euro Rente, es bleiben 120 Euro zum Leben

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Immerhin hat sie kürzlich die Energiepreispauschale vom Bund in Höhe von 300 Euro erhalten – „doch die ist durch die Nachzahlung für den Strom ja schon aufgebraucht“, rechnet die Rentnerin vor. Rechnen, das kann sie – denn sie muss es beinahe schon ihr Leben lang, um über die Runden zu kommen. Von ihrer Erwerbsminderungsrente von 850 Euro bleiben ihr 120 Euro im Monat zum Leben, erzählt Renate S. Rechne man Einnahmen und Kosten gegeneinander auf, liege sie 50 Euro unter dem Existenzminimum, sagt Gabi Spitmann, Beraterin im Mülheimer Arbeitslosenzentrum (Malz). Renate S. nimmt die kostenlose Beratung des Malz seit Jahren in Anspruch. Daher weiß Beraterin Spitmann auch: „Frau S. hat immer kämpfen müssen, auch als sie noch gearbeitet hat. Sie hat jeden Job gemacht, um Geld für ihre zwei Söhne zu verdienen.“

Mit Putzen hat sich die Mülheimerin, die von Erwerbsminderungsrente lebt, immer mal wieder etwas dazu verdient. Doch auch diese Einnahmen fallen jetzt weg.
Mit Putzen hat sich die Mülheimerin, die von Erwerbsminderungsrente lebt, immer mal wieder etwas dazu verdient. Doch auch diese Einnahmen fallen jetzt weg. © dpa | Frank Rumpenhorst

Alleinerziehend war Renate S., vom Vater ihrer Kinder kam kein Pfennig Unterhalt. Sind die Kinder erstmal aus dem Haus und stehen auf eigenen Beinen, wird alles besser – „dann kannst du mit dem Existenzminimum gut leben, alleine kommst du damit klar“ – so war ihre Zielvorstellung über Jahre. Inzwischen sind die Söhne längst erwachsen, um die 30 Jahre alt und machen ihr Ding, haben Jobs, verdienen eigenes Geld und zahlen ihrer Mutter einen Zuschuss zur ÖPNV-Fahrkarte – „20 Euro muss ich selbst pro Monat dazu tun.“

Schlechte Erfahrungen mit Ämtern haben Mülheimerin eingeschüchtert

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Und sie haben sie dazu bewegt, zum Reha-Sport zu gehen, das tut ihr gut, sagt sie. Denn die enorme Belastung der vergangenen zwanzig Jahre hat sich nicht nur auf die Seele von Renate S. gelegt, sie hatte einen Schlaganfall, Lungenembolien, Probleme mit der Schulter. Und eben die Psyche – ihr Nervenkostüm ist alles andere als stabil. Gabi Spitmann formuliert es vorsichtig: „Menschen wir Frau S. werden schnell zum Opfer.“

Mehr als einmal kam sie total eingeschüchtert und runtergemacht vom Amt wieder, weil sie Leistungen beantragen wollte und dort „vorgeführt und ausgelacht“ worden sei, wie sie unter Tränen erzählt. Die Folge: Zusätzliche Sozialleistungen hat sie nicht mehr eingefordert, zu schmachvoll waren die Erfahrungen mit den Ämtern. „Ich wollte es so schaffen, niemanden um Hilfe bitten müssen, erst recht nicht bei meinen Kindern betteln.“ Zur Tafel gehe sie nicht, ihre Scham, dorthin zu gehen, sei einfach zu groß. Auch die Tiertafel könne ihr nicht helfen, denn das Futter, das es dort gibt, vertrage ihr alter, kleiner Hund nicht. Und zur Kleiderkammer? „Klamotten in meiner Größe gibt’s da nicht, alles, was Übergröße ist, wird auch schneller verschlissen, ist durchgescheuert.“ Jetzt zumindest ist der Antrag auf Wohngeld auf den Weg gebracht, berichtet Malz-Beraterin Spitmann. Um die hundert Euro wird Frau S. voraussichtlich dadurch erhalten.

Einzige Sparmöglichkeiten: Weniger Fernsehen und weniger Medikamente

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In den letzten Jahren hat sie immer noch bei jemandem geputzt. „Aber das kann sie körperlich eigentlich gar nicht mehr“, verdeutlicht Spitmann. Nun also ist das Geld vom Putzen auch noch weggefallen, sagt Renate S. mit leerem Blick und fragt: „Was soll ich jetzt noch reduzieren? Das geht nur noch bei den Medikamenten, oder wenn ich den Fernseher nicht mehr anmache.“ Selbst das Mineralwasser habe sie schon rationiert, erzählt die Frau mit dem dunkelbraunen Haar. „Ich trinke jetzt nur noch einen halben Liter pro Tag.“ Leitungswasser sei für sie keine Alternative: „Wer weiß, was da alles drin steckt.“ Wasser abzukochen würde eben wieder Strom verbrauchen. Noch läuft in ihrer Küche der Kühlschrank. Voll aber ist der schon lange nicht mehr. Damit das Gerät nicht noch unnötig Energie verbraucht, füllt sie leere Fächer mit Styropor. „Dann muss die Luft nicht immer wieder runtergekühlt werden.“

Die Heizung so weit aufzudrehen, wäre für Renate S. purer Luxus. Sie nutzt allenfalls Stufe 1, um ihr Wohnzimmer etwas wärmer zu bekommen.
Die Heizung so weit aufzudrehen, wäre für Renate S. purer Luxus. Sie nutzt allenfalls Stufe 1, um ihr Wohnzimmer etwas wärmer zu bekommen. © WAZ FotoPool | BAUER, Dirk

Erinnert sich Renate S. an andere, für sie bessere Zeiten, sagt sie: „Früher, als ich noch Rücklagen hatte, habe ich mir hin und wieder auch mal einen Eistee geleistet.“ Jetzt aber, sagt sie, sei ihr Budget von 120 Euro zumeist nach einem Großeinkauf aufgebraucht. „Wenn ich mir mal Fleisch gönne, dann ist das die billige Wurst, die gab es lange für 88 Cent.“ Gemüse? Achselzucken. „Früher hatte ich hin und wieder eine Tüte Kaisergemüse im Tiefkühler.“

Wenn es auf dem Sofa zu kalt ist, nimmt sie zu Strickjacke und Socken das Oberbett

Ihr Heiligtum in ihrer SWB-Wohnung, in der sie viel Zeit alleine verbringt, ist ihr Elektrokamin. „Den habe ich mir vor Jahren mal gegönnt.“ Doch in Betrieb nimmt sie das Gerät schon lange nicht mehr – wegen des Stroms. Dabei könnte sie die zusätzliche Wärme derzeit gut gebrauchen. „Ich wohne im Erdgeschoss, da kommt es von unten ganz schön kalt.“ Die Heizungen dreht sie kaum auf – im Schlafzimmer eigentlich nie. „Im Wohnzimmer stelle ich die Heizungen höchstens auf anderthalb, und das auch nur, um eben einzuheizen, dann drehe ich wieder runter und habe dann zwischen 17 und 19 Grad.“ Wenn es ihr auf dem Sofa trotz Decke, dicken Socken, Jogginghose – „die ist dicker als eine Schlafanzughose“ – und Strickjacke immer noch nicht warm genug ist, nimmt sie einfach ihr Oberbett mit dem dicken, kuscheligen Bettbezug dazu. „Sieht ja keiner“, sagt die 56-Jährige, die alleine mit ihrem Hund lebt.

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Besuch, den erwartet sie nicht – nicht mehr. Soziale Kontakte sind über die Jahre weniger geworden, letztlich nahezu ganz abgebrochen. Malz-Beraterin Gabi Spitmann beobachtet immer wieder: „Armut bringt auch oft soziale Vereinsamung mit.“ Wenn sie jemanden nach Hause einlade, sagt Renate S., „muss ich ja Kaffee, Milch und Zucker da haben. Und wenigstens ein paar Kekse auf den Tisch stellen.“ Selbst zu backen sei noch viel teurer. „Was Eier und Butter mittlerweile kosten!“ Hätte sie ihre Söhne zu Weihnachten eingeladen, hätte sie sich vorab von ihnen Geld fürs Einkaufen leihen müssen, „30, 40 Euro – aber ich hätte nicht gewusst, wann ich das zurückgeben kann.“ So wird an Heiligabend nicht zusammen gefeiert, sie bleibt wohl alleine.

Geschenke gibt es trotzdem für die Söhne und auch für den drei Jahre alten Enkel, erzählt die zweifache Mutter – schon seit Februar hat sie dafür mühsam Geld zurückgesteckt. „Aber ich habe ihnen gesagt, dass das das letzte Mal sein wird.“ Dass sie gerade ihrem kleinen Enkel keine Wünsche erfüllen kann, das schmerze sie am meisten.