Mülheim. Der Entwicklung der Parkstadt in Speldorf ging der Aufstieg von Tengelmann voraus. Wie das Unternehmen von Mülheim aus sein Filialnetz spannte.
Altes geht. Neues kommt. Das 65.000 Quadratmeter große Tengelmann-Areal an der Wissollstraße wandelt sich, wie in dieser Zeitung kontinuierlich berichtet, unter der Federführung des österreichischen Investors Soravia zu einer „Parkstadt“, in der gewohnt, gelebt und gearbeitet werden soll. Doch wie fing dort alles an?
Vor 155 Jahren gründeten der damals 36-jährige Kolonialwarenhändler Wilhelm Schmitz, der aus einer Mülheimer Tuchhändlerfamilie stammte, und seine drei Jahre jüngere Frau Louise Scholl ihr Unternehmen Wissoll, das zur Keimzelle der Tengelmann Gruppe werden sollte. Als Kolonialwaren bezeichnete man im 19. Jahrhundert Waren, deren Rohstoffe aus den europäischen Kolonien in Übersee eingeführt wurden, also Kaffee, Tee, Kakao und Schokolade.
Wissoll machte gute Geschäft mit Kolonialwaren
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Angesichts seines Import-Geschäftes hatte Schmitz privat Englisch-Unterricht genommen, um bei Verhandlungen sprachfähig zu sein. Wilhelm Schmitz und Louise Scholl, die seit ihrer Hochzeit im Jahre 1855 in einem Haus an der Ruhrstraße lebten und arbeiteten, in dem heute die Ruhrgalerie residiert, waren nicht nur Ehe-, sondern auch Geschäftspartner. Louise Scholl wurde am 28. April 1834 als Tochter des Broicher Ruhrschiffers und Gastwirts, Hermann Scholl, und dessen Frau Johanne Stockfisch, in eine Familie hineingeboren, die vor dem Bau der ersten Ruhrbrücke (1844) von 1771 bis 1827 einen Fährbetrieb unterhielten. Sie hatte in dem gemeinsamen Unternehmen Prokura, was angesichts des damaligen Frauenbildes ungewöhnlich war.
Mit finanzieller Unterstützung seines Hausgenossen, des Mühlenbesitzers und späteren Lederfabrikanten Ludwig Lindgens hatte Wilhelm Schmitz 1856 die Kolonialwarenhandlung seines Lehrherrn Johann Wilhelm Meininghaus übernommen. Schon vor seiner Kaufmannslehre hatte er im elterlichen Betrieb mitgearbeitet und die Höhere Bürgerschule besucht, aus der später das heutige Karl-Ziegler-Gymnasium hervorgehen sollte.
Mülheimer Ruhrhochwasser von 1870 bedrohte das Unternehmen
Als sich ihr Hausgenosse Lindgens als ihr finanzieller Teilhaber zurückzog, führten Wilhelm Schmitz und Louise Scholl das alte Unternehmen unter neuem Namen weiter. Schon nach drei Jahren wurde die wirtschaftliche Sicherheit des Unternehmer-Ehepaares durch die Folgen eines Ruhrhochwassers bedroht. Doch ein Kredit des an der Bahnstraße ansässigen Bankhauses Gustav Hanau rettete ihr Unternehmen vor der Insolvenz, indem es ihnen ermöglichte, die durch das Hochwasser zerstörten Warenbestände neu einzukaufen.
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Ihr Sohn und Nachfolger Karl-Friedrich erinnerte sich später im Rückblick auf das Ruhr-Hochwasser anno 1870: „Mit Tränen in den Augen kehrte Vater zurück, so dass selbst uns Kindern der Humor verging. Denn bei der Kostbarkeit und der großen Menge des verdorbenen Kaffees handelte es sich um einen Schaden, der in die Tausende ging und den Lohn langer Arbeit vernichtet hatte. Damals ist mir wohl zum ersten Mal das Gefühl gekommen, dass das Hochwasser nicht nur ein Vergnügen für uns Kinder war.“
Zweiter Firmenstandort nahe der Friedrich-Wilhelms-Hütte
Wilhelm Schmitz und Louise Scholl erweiterten ihr Unternehmen 1882 um eine Kaffeerösterei, in der täglich 1000 Pfund Kaffee gebrannt wurden. 1887 richteten sie einen zweiten Firmenstandort, nahe der heutigen Friedrich-Wilhelms-Hütte ein. Doch nach einem schweren Kutschunfall war Louise Scholl ab 1886 nur noch eingeschränkt in der Lage, ihren Mann bei der Unternehmensführung zu unterstützen.
Nach dessen Tod am 5. Dezember 1887 führte sie die Geschäfte zusammen mit ihrem ältesten Sohn Wilhelm (1861-1927) bis zu ihrem eigenen Tod im Juni 1888 fort. Nach ihrem Tod stieg Wilhelms jüngerer Bruder Karl Friedrich (1868-1933) in die Leitung des Familienunternehmens ein.
Die Söhne der Firmengründer, die noch zwei Schwestern (Bertha und Wilhelmine) und einen Bruder (Hermann) hatten, ließen 1912 Verwaltungs- und Produktionsstätten an der Wissollstraße errichten. Unter dem Namen ihres Prokuristen Emil Tengelmann entstand ab 1893 ein deutschlandweites Filialnetz von Tengelmann-Geschäften, deren Zahl bis 1914 auf 560 anstieg. Neben den klassischen Kolonialwaren konnte man dort auch die von Wissoll hergestellte Seife kaufen. 60 Jahre nach dem ersten Tengelmann-Verkaufsladen sollte 1953 in München der erste SB-Tengelmann-Supermarkt eröffnet werden.
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1969 erzielte das Handelshaus erstmals eine Milliarde D-Mark Umsatz
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Mit Erivan Haub übernahm 1969 die Enkel-Generation das Erbe der Firmengründer. Und somit auch die Leitung des Handelshauses, das damals erstmals einen Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde D-Mark erwirtschaften konnte und sich in den folgenden Jahrzehnten um den Discounter Plus, die OBI-Baumärkte und den Textil-Discounter KIK erweitern sollte. Unter der Führung seiner Söhne Karl-Erivan und Christian, die im Jahr 2000 das Erbe der Firmengründer übernahmen, sollte das letzte Kapitel der Mülheimer Tengelmann-Geschichte beginnen und mit dem Verkauf des Firmenareals an der Wissollstraße 2019 zu Ende gehen.