Mülheim. Das Handy klingelte – ab da war nichts mehr wie zuvor. Was eine Mülheimer Familie nach einem Unfall erlebte. Und welche Vorwürfe sie nun erhebt.
Den 8. Juni 2022 wird Familie Köchling aus Mülheim nicht vergessen. „Sind Sie die Mama von Henry?“, fragte ein aufgeregter Mann, als Julia Köchling mittags ahnungslos ans Handy ging. Der Fremde hatte eine Hiobsbotschaft: „Ich habe Ihren Sohn angefahren. Der Krankenwagen ist schon da.“
Die 38-Jährige saß gerade im Auto, mit Henrys beiden Geschwistern. Sie hatte ihre Tochter an der Luisenschule eingesammelt. Schnell nach Saarn eilen, zum Unfallort an der Bushaltestelle Weißdornbogen, ging trotzdem nicht. Die aufgelöste Familie steckte an der Straße Vonscheidts Hof hinter einem Müllwagen fest. „Ich habe erst mal angefangen zu schreien“, so die Mutter. „Dann habe ich nur noch funktioniert.“
Die Blessuren an den Beinen waren nicht zu übersehen – doch was war mit dem Kopf?
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Der Achtjährige wurde unterdessen im Rettungswagen auf der Luxemburger Allee untersucht. Die schlimmen Blessuren an den Beinen waren nicht zu übersehen. Doch hatte er auch innere Verletzungen? Und hatte der Kopf etwas abgekriegt? Es ging um drängende Fragen wie diese, erinnert sich Henrys Vater im Interview rund einen Monat nach dem Geschehen. Marcel Köchling hatte die Schock-Nachricht im Büro in Duisburg ereilt. „Ich habe den Griffel fallenlassen und bin sofort los.“
Die ersten Worte, die Henry zu seiner Mama sagte, waren: „Kriege ich jetzt Ärger?“ Trotz aller Schmerzen habe ihn der Gedanke beschäftigt, er könne im Verkehr etwas falsch gemacht haben. Die Eltern beruhigten ihn von der ersten Sekunde an – doch nach wie vor, so wissen sie, arbeitet es in dem Jungen. Henry stelle den Unfall immer und immer wieder mit Spielzeugautos nach. Besonders schlimm sei es gewesen, als er von einem weiteren Unfall mit einem jungen Opfer hörte: Am 21. Juni war eine Zwölfjährige auf der Kölner Straße schwer verletzt worden. Per Rettungshubschrauber musste sie in die Klinik gebracht werden.
„15 Ärzte aus allen Abteilungen des Krankenhauses warteten schon auf unseren Sohn“
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Am linken Fuß hatte Henry nach der Kollision eine tiefe Fleischwunde, der rechte Oberschenkelknochen war durchtrennt. Das kleine Bein, so erinnern sich die Eltern, war „auf das Doppelte angeschwollen“. Zum Glück sei ihr Sohn unmittelbar vor dem Unfall „noch etwas zurückgewichen“, andernfalls wäre er deutlich schwerer verletzt worden. Er kam in die Sana-Kliniken in Duisburg-Wedau, der Vater begleitete ihn im Krankenwagen. Es sei beeindruckend gewesen, „dass da gleich 15 Ärzte aus allen Abteilungen standen, um Henry zu versorgen“. Der Junge wurde im Computertomographen durchgecheckt, dann schnell operiert.
Kurz vor der OP sprach der Vater ihm noch Mut zu – „mach dir keine Sorgen, ich bin da“ –, dann war Henry für eine kaum aushaltbar lange Zeit verschwunden. „Eine Stunde war angekündigt, drei hat es gedauert. . .“ Marcel Köchling versuchte sich mit Arbeit am PC abzulenken „und mit Schnitzel/Pommes in der Cafeteria“. Seine Frau ängstigte sich derweil zu Hause, versuchte irgendwie für die anderen zwei Kinder da zu sein.
Alle Verletzungen werden rückstandslos verheilen, sagen die Ärzte
Henry kam auf die Kinder-Intensivstation, die Eltern schwärmen noch heute vom „lieben Personal“. Der schönste Moment für sie war, als ein Arzt ihnen einige Zeit später versicherte, dass alle Verletzungen rückstandslos verheilen werden. „Um ganz sicher zu sein“, holte sich Julia Köchling eine zweite Meinung ein – doch auch im BG Klinikum Duisburg attestierte man Henrys Operateuren gelungene Arbeit.
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Seit einigen Wochen ist der Junge wieder zu Hause in Mülheim. Noch muss er eine Gips-Schiene tragen, das Bein stillhalten. Voraussichtlich am 19. Juli aber wird er das lästige Ding und damit auch den Rollstuhl los. In vier bis sechs Monaten müssen dann noch Drähte gezogen werden – und das war’s dann hoffentlich. Henry wünscht sich, den 24-jährigen Mülheimer, der ihn angefahren hat, eines Tages kennenzulernen. Julia Köchling nennt ihn „einen total netten Mann“. Auch für ihn war der 8. Juni ein schlimmer Tag: „Der Unfall tat ihm schrecklich leid. Ich habe ihn damals spontan umarmt.“
„Der Schuldvorwurf hat uns geärgert und verletzt“, sagen die Eltern
Groll hegen die Köchlings nicht, und doch ist für sie noch nicht alles geklärt: Die Polizei habe damals viel zu schnell Henry allein für den Unfall verantwortlich gemacht, finden sie. Er sei unbedacht auf die Straße gerannt, ohne auf den Verkehr zu achten, hatte es in einer Pressemitteilung geheißen, die auch von dieser Redaktion veröffentlicht wurde. „Der Schuldvorwurf hat uns geärgert und verletzt“, so die Eltern. „Henry weiß, wie man über die Straße geht, nach links und rechts guckt.“ Die Sache sei vielleicht weniger eindeutig als angenommen: „Es klingt, als ob der Sachverhalt nicht ausreichend gewürdigt wurde.“
Fest steht, dass Henry kurz vor dem Unfall aus dem 133er ausgestiegen war – „er liebt Busfahren und darf diese Strecke allein fahren, weil er sie gut kennt“ – und am Ende des Fahrzeuges über die Fahrbahn gelaufen ist. Möglicherweise habe der gerade abfahrende Bus die Sicht verdeckt. Es habe auch stark geregnet zu diesem Zeitpunkt, so die Eltern, und die Unfallstelle sei schon deshalb schwer einsehbar, weil sie sich in einer Kurve befinde. Das Paar wüsste gern, „ob der 24-Jährige den Witterungsverhältnissen angemessen gefahren ist und ob er sich an das vorgeschriebene Tempo von 50 km/h gehalten hat“.
Polizistin am Unfallort soll „nicht sonderlich mitfühlend“ gewesen sein
Zeugin soll schon vor Ort Beobachtungen geschildert haben
Laut einer Polizeisprecherin haben die Kollegen schon vor Ort mit einer Zeugin gesprochen, die ausgesagt habe, „dass der Autofahrer langsam gefahren und das Kind recht unvermittelt auf die Straße gelaufen ist“.
Dass die Kollegin schon im Rettungswagen nach Informationen gefragt habe, sei durchaus üblich. Es sei „im Sinne aller Beteiligten, die Fakten rasch zusammenzutragen“. Je eher man spreche, desto besser: „Dann ist das Erinnerungsvermögen noch ein ganz anderes als später.“ Man berücksichtige aber natürlich auch immer den Gesundheitszustand des Verletzten: „Wenn der Arzt sagt, es geht nicht, beschaffen wir uns die Informationen im Nachgang.“
Sollte bei den Eltern der Eindruck entstanden sein, dass besagte Polizistin wenig empathisch vorgegangen ist, „dann tut uns das leid“, so die Polizeisprecherin.
Henrys Leidensgenossin übrigens, das Mädchen, das auf der Kölner Straße angefahren worden ist, wurde laut Polizei zwischenzeitlich aus der Klinik entlassen. Es gehe ihr „den Umständen entsprechend gut“.
Jüngst wurde ein Ordnungswidrigkeiten-Verfahren gegen Julia Köchling eingeleitet – als Erziehungsberechtigte musste sie Stellung zum Unfall nehmen, hat seither aber nichts mehr davon gehört. Unschön fand sie übrigens den Auftritt einer Polizistin am Unfallort. „Ich war erst eine Minute bei Henry im Krankenwagen, hatte mich gerade zu ihm gekniet, da kam sie schon rein und wollte Infos von mir.“ Die Beamtin habe den Ausweis verlangt und sogar direkt mit Henry sprechen wollen. „Das war nicht sonderlich mitfühlend. Zum Glück hat der Arzt sie weggeschickt.“