Mülheim. Nach zwei Jahren Zwangspause boten Müga, Alte Dreherei, Aquarius und Flughafen fantastische Erlebnisse. Wie Mülheim die Extraschicht erlebt hat.
Die Grundstimmung bei der Extraschicht, der Nacht der Industriekultur, ist bei idealem Wetter wohlig entspannt. Doch den Tausenden von Besuchern aus dem gesamten Ruhrgebiet und der weiteren Umgebung, die nach Mülheim kommen, ist auch eine große Neugierde eigen, sie wollen viel sehen und erleben. Doch zuallererst ist da das Schlangestehen, das Zeigen des QR-Codes an jedem Veranstaltungsort beim Ein- und Auschecken, was viel Zeit in Anspruch nimmt. Da murren viele genervt.
Manche fordern angesichts der Schlangen die ehemaligen Armbänder zurück – mit ihnen reichte es, den Arm nach oben zu recken, um rein- und auch rauszukommen.
Beim Aquarius Wassermuseum mit dem wundervollen Areal zeigt sich die gleiche Schwachstelle wie bei der Camera Obscura: Die Aufzüge sind für solch große Besuchermassen nicht ausgelegt, und nicht immer steht eine Treppe zum Ausweichen zur Verfügung.
Illuminierte Quallen schaffen berauschende Traumwelt im Styrumer Wasserturm
Also heißt es wieder anstehen – um dann allerdings auch mit jeweils traumhaftem Ausblick von beiden Industriedenkmal-Türmen belohnt zu werden. In der Kuppel der Camera Obscura entführt die Musikerin Chen Lyu die aufmerksamen Zuhörer mit ihrer Guzheng in den Fernen Osten. Das beeindruckende, sehr vielseitige chinesische Zupfinstrument entwickelt bei dieser einzigartigen Akustik einen bewegenden Zauber.
Auch interessant
Im Panorama-Rundgang des Styrumer Wasserturms lockt eine Bildergalerie zur unfassbaren Vielfalt von Quallen zu einem Event im nach hinten gelegenen Extragebäude: Die Musik- und Lichtinstallation „Jellyworld“ von Daniel Kurniczak. Herrliche drei Minuten dauert die Show in Endlosschleife – wenn’s funktioniert –, bei der sich zu einmal sphärischer, dann auch wieder extrem rhythmischer Musik die an der Decke hängenden künstlichen Quallen beleuchten. Lichterschläuche bilden die langen Tentakel, sodass jede Qualle, mal einzeln, mal alle gemeinsam, in wechselnden bunten Lichtern erstrahlen. Zusammen mit der stimmungsvollen indirekten Wandbeleuchtung entsteht in der Dunkelheit des Saals eine berauschende Traumwelt.
Draußen können Kinder aus Müll eine Qualle basteln. Den Körper bildet eine mit alter Zeitung ausgestopfte Kaffeekapsel, die Tentakel bestehen aus geschreddertem Papier oder Pappe, aus alten Geschenkbändern oder Bast. Mit Glubschaugen versehen sind diese Quallen ein echter Hingucker – wie die beiden Stelzen-Attraktionen Medusa und Limea mit ihren tentakelähnlich flatternden Ärmeln.
Der Flughafen in Mülheim ist zum ersten Mal Spielort der Extraschicht
Auch am Flughafen auf dem Areal der WDL begeistern nächtens die Stelzenläuferinnen „Nachtschwärmer“, die mit ihren weißen Gewändern und beleuchteten Flügelarmen grazil dahinschreiten, fast schweben. Derweil tummeln sich die Genießer in der Tabaklounge, lauschen die zufriedenen Besucher in den 100 Liegestühlen mal dem DJ Steve Clash, mal dem Gitarristen und Sänger Björn Patrick Pfeiffer. „Das ist wie Urlaub“, lautet hier die allgemeine Einschätzung, und es fühlt sich auch so an.
Dieser neue, relativ weit außerhalb liegende Veranstaltungsort ist seit dem Einlass permanent belebt. Geduldig warten die Massen auf die begehrten Führungen zur faszinierend beleuchteten JU 52 und natürlich zum Luftschiff Theo, das in der Nacht seinen ganz eigenen Zauber verbreitet. Einem gigantischen Lampion gleich schwebt es über der Rollbahn und wird eifrig fotografiert – genauso wie die Antonov Roter Baron und die vielen anderen Flugzeuge, vor allem Einpropellermaschinen.
Auch interessant
Am Flughafen wird aber auch viel gechillt, das Leben genossen, allerdings nur, bis es zum nächsten Ort geht, etwa der Müga, wo die Drehscheibe das Zentrum vieler Bühnenacts bildet.
René Steinberg hält am Ringlokschuppen eine Lobeshymne auf die Ruhrpöttler
René Steinberg ist großartig gelaunt, als er seine Lobeshymne auf die Ruhrpöttler mit wundervollen Alltags-Anekdoten zur Freude des Publikums präsentiert. Inklusive ÖPNV-Anekdoten, wenn etwa jemand aus Unna sonntagabends nach Duisburg-Walsum gelangen will, dafür über sieben Stunden braucht – so lange wie ein Flug von New York nach Los Angeles.
Auch interessant
Fantastisch auch Renés Spontaneität, als er die Humorkompetenz der Ruhrpöttler hervorhebt. Dann spricht er spontan einen Pressefotografen an: „Ich hab den Eindruck, du willst jetzt ein Foto machen.“ Dessen Antwort bleibt unverständlich, aber René wiederholt sie gern. „Ach, wollse nicht?“ Als sich dann der Fotograf mit deutlich rotem Kopf näher an die Bühne begibt und hinkniet, setzt René noch einen drauf: „Ach, jetz haste Bock oder wat?“ Das Publikum tobt, wie auch bei Steinbergs Ruhrgebietstypisierung durch „Hömma, samma, womma nomma“. Seine brillante, breit angelegte Liebeserklärung an unser, an sein Revier, ergänzt René nach der Show im kleinen Kreis, er fordert: „Wir dürfen uns nicht auf unserer Schäbigkeit ausruhen.“
Traktorparade wird untermalt vom Fanfarenkorps „Mölmsche Houltköpp“
Noch während der Comedyshow zieht die Traktorparade zwischen Schloß Broich und Bühne eindrucksvoll zur Alten Dreherei, wohin ein idyllisch bunt beleuchteter Weg führt. Ein Paradies für Oldtimer-Fans, diese Straßenbahnen mit Holzklasse, die seltenen Automobile. Darunter witzige Exponate wie das Kadett-Wrack, vor dessen erhaltenem Heck wie bei einer Kutsche ein kleiner Weinanbautraktor gespannt ist. Die Feldbahn transportiert wieder zum Eingang, wo vor vollen Biertischen das Fanfarenkorps „Mölmsche Houltköpp“ mit dem Slogan „Ja! Das muss so laut!“ stimmungsvoll aufspielt.
Auch interessant
Während an der Alten Dreherei geschunkelt und ineinander gehakt getanzt wird, letzte Fetzen von „Griechischer Wein“ fast bis zur Müga zu hören sind, liefern die „Rude Reminders“ auf der Drehscheibe kontrastreich ein entspanntes Reggae-Konzert. Hier finden sich hauptsächlich jüngere Menschen, die gern barfuß tanzen unter dem Motto: „Relax, take it easy!“ Das ist der Pott, das ist das vielseitige Mülheim – einfach wundervoll!
Die Faszination der gemeinschaftlichen Stille: Silent Disco in Mülheims Müga
Als ungeahntes Highlight zum Abschluss der Extraschicht in der Müga stellt sich direkt im Anschluss an das Feuerwerk die Silent Disco heraus. Die Gaze der Drehscheibe sind gefallen, die Bühne wird zum DJ-Pult, die Drehscheibe öffnet sich somit zu beiden Seiten für eine Kopfhörer-Party.
Eigentlich gibt es ja keine schärfere Form der Isolation, als Musik über Kopfhörer zu hören. Doch bei der Silent Disco wird dieses Grundprinzip vollkommen ausgehebelt. Für Außenstehende ein witziges Erlebnis, wenn sich 500 Leute mit ihren bunt leuchtenden Kopfhörern zu unhörbarer Musik bewegen. Einige tanzen verträumt, andere reißen die Arme begeistert in den Himmel und skandieren „YMCA“ oder „Let’s get physical“. Viele singen auch einen kompletten Song mit – allerdings nicht immer denselben, auch nicht bei Paaren. Sie tanzen selbstvergessen, scheinen glücklich und zufrieden.
Für die Musik sind drei Studierende verantwortlich, die jeweils eine spezielle Playlist zusammengestellt haben: Diana (20) hat sich für Pop & Rock entschieden, was über die roten Kopfhörer zu hören ist, Zora (23) liefert Clubsounds (blau) und Jakob (23) Trash der 80er und 90er Jahre (grün). An der vorherrschenden leuchtenden Farbe der Kopfhörer können die drei erkennen, wessen Musik in einem Moment am meisten bevorzugt wird. Gegen Mitternacht ist es eindeutig grün mit „Skandal im Sperrbezirk“, denn von allüberall erschallt die entscheidende Zeile: „Skandal! [gemeinschaftliches Kicksen der Stimme] Skandal um Rosie!“ Was für ein fantastisches Erlebnis, ob mit oder ohne Kopfhörer! Auch wenn ein Mann widersprüchlich kommentiert: „Grauenhaft, die Leute singen zu hören. Aber es hat was!“
Hier geht’s zur Fotostrecke von der Extraschicht!