Mülheim. Die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen erreichte auch in Mülheim einen Tiefpunkt. 50.000 Mülheimer wählten nicht. Die Suche nach Erklärungen.
Die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in Mülheim hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Was Wissenschaftler und Politiker sagen.
Die Wahlbeteiligung in NRW insgesamt ist auf einen historischen Tiefstwert von 55,5 Prozent gesunken (2017: 65,2; 2000: 56,7). Unter Politikwissenschaftlern ist umstritten, ob und ab welchem Wert eine niedrige Wahlbeteiligung Demokratien schaden kann. Auch in Mülheim ist die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen am Sonntag auf einem bedenklich niedrigen Niveau angekommen: Nur noch 58,2 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Im Vergleich zu 2017 gingen 15.728 Menschen weniger zur Wahl. Mehr als 50.000 Mülheimer nahmen ihr Wahlrecht nicht wahr.
Eppinghofen-Nordwest: Fast zwei Drittel der Wähler bleiben zu Hause
Fest steht: Je niedriger die Wahlbeteiligung, desto stärker sind Wahlen – und in der Folge oft politische Prozesse – sozial verzerrt: Denn unter den Nichtwählern sind Bürger mit niedrigem Bildungsniveau und geringerem sozio-ökonomischem Status nachweislich überrepräsentiert.
Zu dieser in der Forschung unstrittigen Erkenntnis passen die gravierenden Unterschiede im Mülheimer Stadtgebiet: Der Mülheimer Wahlkreis mit der niedrigsten Wahlbeteiligung ist Eppinghofen-Nordwest. Dort gingen gerade einmal noch 35,5 Prozent der 3338 wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger wählen. Insgesamt in sechs von 27 Mülheimer Wahlbezirken ist die Zahl der Nichtwähler bei dieser Wahl größer als die Zahl der Wähler.
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Dies gilt für die Bezirke Styrum-Süd (41,4 Prozent), Styrum-Nord (45,2), Dümpten-Styrum (47,2), Mellinghofen (49,5) und Eppinghofen-Ost (49,6). Außer den Grünen haben von den im Landtag vertretenen Parteien in all diesen Wahlbezirken Wählerstimmen verloren. Zum Vergleich: Den Höchstwert bei der Wahlbeteiligung erreicht Holthausen-Süd mit 72,1.
So hat Holthausen-Süd beim städtischen Gesamtergebnis ein deutlich höheres, nämlich doppeltes Gewicht als Eppinghofen-Nordwest. Auffällig: Die Armutsschere der Stadt spiegelt sich in den Werten der Wahlbeteiligung. Stadtteile mit ausgeprägten sozialen Schieflagen bringen sich weniger in die politische Willensbildung ein, folglich fehlt es ihnen in Parlamenten - von der EU bis hin zur Stadt – an Repräsentanz. Ihre Interessen drohen zu kurz zu kommen.
Nord und Süd: Schere zwischen Stadtteilen geht immer weiter auseinander
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Noch mehr: Schon bei der Auswertung zur Bundestagswahl 2021, bei der die Beteiligung insgesamt bei deutlich höheren 77,9 Prozent lag, hatten die städtischen Statistiker eine stark zunehmende Polarisierung zwischen den Mülheimer Wahlbezirken ausgemacht. Die Wahlbeteiligung variierte im Vorjahr in den Kommunalwahlbezirken zwischen 56,4 Prozent in Eppinghofen-Nordwest und 87,5 Prozent in Holthausen-Süd.
Das Delta von 31,1 Prozentpunkten bei der Wahlbeteiligung in beiden Bezirken wurde nun bei der Landtagswahl noch größer: In Holthausen-Süd lag die Beteiligung um satte 36,6 Prozentpunkte höher als in Eppinghofen-Nordwest. „Die Polarisierung setzt sich fort, Wahlberechtigte aus Eppinghofen und Styrum sind immer stärker unterrepräsentiert“, stellten schon zur Bundestagswahl die Statistiker fest.
Politikforscherin: Programme der Parteien waren kaum zu unterscheiden
Forscher haben einige Gründe für die schwindende Beteiligung ausgemacht, etwa die Politologin Dr. Julia Schwanholz von der Universität Duisburg-Essen. Tatsächlich sind die Forscher, wie Mülheims CDU-Landtagskandidat Heiko Hendriks, eher überrascht, dass die Wahlbeteiligung so gering ist, denn eine These besagt, dass Menschen vor allem dann gehen, wenn es besonders knapp ist und sie das Gefühl haben, mit ihrer Stimme etwas bewegen zu können. „Das hat trotz des Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen Wüst und Kutschaty nicht funktioniert“, konstatiert Schwanholz.
Hinzu komme die schlechte Unterscheidbarkeit der Programme, die sich besonders deutlich in den TV-Duellen gezeigt habe. Auf die Frage, welche Zitate in welchem Wahlprogramm zu finden seien, lagen selbst die Spitzenkandidaten falsch. „Viele Bürgerinnen und Bürger sind überfordert mit den Inhalten, finden es anstrengend, herauszuarbeiten, welche Partei wofür steht“, sagt Schwanholz. Wenn die Inhalte dann auch noch medial ungeschickt transportiert werden, lockt man keinen an die Urne.
Zu wenig Zeit für den Straßenwahlkampf
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Dass durch die Osterferien die Zeit des Straßenwahlkampfs begrenzt war, sei ein weiterer Grund: Der persönlichen Begegnung auf Märkten oder an der Haustür komme eine „enorme Bedeutung“ zu. Diese Menschen würden zu Multiplikatoren in ihren Peer-Groups.
Einer, der in Mülheim nimmermüde an Haustüren geschellt hat, ist SPD-Kandidat Rodion Bakum. Für ihn hat es zwar noch knapp für das Direktmandat für den Landtag gereicht. Seine Partei, dessen Vorsitzender Bakum ist, kassierte aber das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Landtagswahlen in Mülheim. 7558 Wähler weniger als noch vor fünf Jahren (ein Stimmenverlust von 25 Prozent) konnte die SPD in Mülheim für sich begeistern. Sie kam insgesamt nur noch auf 22.210 Stimmen, das entspricht nicht einmal mehr einem Fünftel der Wahlberechtigten.
Mülheims Landtagsabgeordneter Bakum (SPD): Hingehen, mit Menschen sprechen
Die Beteiligung sei „eine Katastrophe“, sagt der neue SPD-Landtagsabgeordnete Rodion Bakum. Für seine SPD findet er trotz der Stimmenverluste trostspendende Worte. Am Sonntag seien immerhin auch rund 7000 Stimmen mehr zusammengekommen als noch beim Zweitstimmen-Ergebnis der Kommunalwahlen 2020, da habe seine Partei „doch viel Vertrauen zurückgewonnen“.
Dass aber 50.000 Mülheimer nicht wählen waren, müsse nachdenklich machen. Bakum selbst will weiter auf den direkten Draht zu Wählern setzen, für seinen Wahlkampf bilanziert er 3353 Haustürbesuche. Sein Angebot zum direkten Gespräch will er aufrechterhalten, „nicht nur Telefonnummern aus Düsseldorf und Mülheim auf der Homepage hinterlegen“. Bakums zweites Rezept gegen Wahlmüdigkeit: Um Themen im Wahlkreis aktiv kümmern. Die Bundesregierung sei da hinsichtlich Ukraine-Krieg und Energiekosten-Explosion gefragt, er als Landes- und Kommunalpolitiker selbst etwa dabei, für die Zukunft der Vallourec-Beschäftigten einzutreten. Noch etwas hat Bakum vor: Mit politischer Bildung gelte es früh zu beginnen. Er selbst wolle dazu Angebote an Kitas und Schulen machen.
Dortmunder Professor: „Politik muss die soziale Ungleichheit extrem ernst nehmen“
Insgesamt sei die Gruppe der Nichtwähler sehr heterogen, sagt Politikwissenschaftlerin Schwanholz. Es gebe einen kleinen Teil, der gegen demokratische Prozesse ist, bei manchen gebe es technische Gründe. Manche Menschen leben sehr zurückgezogen und haben kaum Berührungspunkte mit der Politik. Wer vor Corona schon nicht in Vereinen oder im Ehrenamt aktiv war, hat es nun noch schwerer.
Von „Aussichtslosigkeit und Hilflosigkeit, nicht mehr repräsentiert zu werden“, spricht Peter Imbusch, Professor für politische Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal, mit Blick auf die Gelsenkirchener Gesellschaft. „Die Politik muss die soziale Ungleichheit endlich extrem ernst nehmen, man kann jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen“, appelliert auch der Dortmunder Sozialwissenschaftler Prof. Harald Rüßler.
„Die Leute sagen: Ich habe nie erlebt, dass jemand was für mich tut“
Er stellt mit Blick etwa auf die Wahlbeteiligung in Gelsenkirchen (nach Werdohl die zweitschlechteste im Land) in einer diesbezüglichen Forschungsarbeit fest, ein Gros der Bürger sei „nicht interessiert“, an der Gestaltung ihres Wohnorts teilzuhaben, und zugleich „pessimistisch“, was ihre Lebens- und Zukunftsgestaltung angeht. „Es gibt ein Ohnmachtsgefühl, die Leute sagen: Ich habe nie erlebt, dass jemand was für mich tut.“
Selbst die CDU als Wahlsiegerin in Mülheim hat fast 900 Stimmen weniger eingesammelt als noch 2017. Für ihren Landtagskandidaten Heiko Hendriks ist die Wahlbeteiligung „ein Tiefschlag, ich bin richtig entsetzt“. Hendriks berichtet davon, dass selbst am Tag vor der Wahl noch Menschen an den Wahlständen der Parteien vorbeigekommen seien mit den Worten: „Ach, ist schon wieder Wahl?“ Da stehe man als Politik „schon ziemlich ratlos da“ angesichts der zahlreichen Kanäle, über die zur Wahl der Kontakt zu Bürgern gesucht worden sei.
Hendriks (CDU): Zumindest mit leerem Wahlzettel zeigen, dass Demokratie wichtig ist
Hendriks sieht die Notwendigkeit, in Schulen – auch unter Einbeziehung von Politikern – mehr zu vermitteln, dass das „Wahlrecht eine Errungenschaft“, mit Blick gerade auch auf den Angriffskrieg der russischen Diktatur auf die Ukraine, „ein Privileg“ sei. Das wüssten viele Bürger offensichtlich nicht mehr zu schätzen. Lediglich von Politikverdrossenheit zu sprechen, greift für Hendriks zu kurz. Um ein Zeichen zu setzen, dass man die Demokratie nicht ablehne, hätten die Nichtwähler ja zumindest einen leeren Wahlschein abgeben können, meint er.
„Nichtwählen ist vererbbar“, sagt Schwanholz. Wer mit dem Thema nicht aufwächst, findet als Erwachsener nur schwer hinein. Die Politologin betont, dass es außerdem eine Parteienverdrossenheit gibt – nicht zu verwechseln mit der Politikverdrossenheit. Die Menschen nehmen nicht mal die Plakate in ihrem Viertel wahr, kennen ihre Abgeordneten nicht.
Grüne Jugend in Mülheim fordert Wahlrecht ab 16
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Was aber ist das Mittel gegen Politikverdruss? Zumindest die Grüne Jugend im Land und in Mülheim hatten sich eine Woche vor der Wahl noch stark gemacht für ein Wahlrecht ab 16 Jahren. „Junge Menschen müssen ernsthafter an politischen Prozessen beteiligt werden“, hatte Philipp Hoffmann, Sprecher der Grünen Jugend in Mülheim gefordert.
Die Bewegung „Fridays for Future“ habe gezeigt, dass sich Jugendliche und Kinder bereits sachlich und wissenschaftlich fundiert mit Klima-Problemen und ihrer Zukunft auseinandersetzen können, stellte die Landessprecherin Nicola Dichant fest. Wenn also die erwachsenen Wähler politikmüde scheinen, warum nicht diejenigen einbinden, die offenbar noch Lust an der politischen Mitbestimmung haben?
Politologin: Wissen um politische Zusammenhänge ist defizitär
Der Migrationshintergrund spiele, abgesehen von Sprachproblemen, eher keine Rolle. Vielmehr gehe es losgelöst von sozialen Schichten selbst bei gut Gebildeten mit hohem Einkommen darum, dass das Wissen um politische Zusammenhänge defizitär ist und viele die Abläufe nicht kennen oder wissen, wo welche Entscheidungen getroffen werden. Da weniger Zeitung gelesen werde, sei auch das schon ein intellektuelles Medium.
Um diese Abwärtsspirale aus mangelnder Teilhabe aller Bevölkerungsschichten aufzuhalten, brauche es Demokratie als Schulfach. Nur mehr Wissen führe langfristig zu mehr Beteiligung, ist die 41-Jährige sicher. Und nimmt in Kauf, dass Politik den Kindern in manchen Schulfächern „zum Halse raushängt“. (mit aka, devo, gowe, pw)