Gelsenkirchen. Die zweitniedrigste Wahlbeteiligung landesweit: Warum der Landtagswahl so viele Gelsenkirchener ferngeblieben sind. Ein Erklärungsversuch.
Mit Ausnahme des sauerländischen Werdohls sind am Sonntag nirgendwo sonst so wenig Menschen in NRW wählen gegangen wie in Gelsenkirchen: Die Emscherstadt hat mit 44,4 Prozent die zweitgeringste Wahlbeteiligung im ganzen Bundesland.
Von „Aussichtslosigkeit und Hilflosigkeit, nicht mehr repräsentiert zu werden“, spricht Peter Imbusch, Professor für politische Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal, mit Blick auf die Gelsenkirchener Gesellschaft. „Die Politik muss die soziale Ungleichheit endlich extrem erst nehmen, man kann jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen“, appelliert auch der Dortmunder Sozialwissenschaftler Prof. Harald Rüßler.
Schalke-Ost: Nur jeder dritte Wahlberechtigte ging hier zur Wahl
Von rund 167.300 Wahlberechtigten in Gelsenkirchen haben bei der Landtagswahl lediglich 74.385 ihre Stimme abgegeben - das sind noch mal 13,8 Prozent weniger als bei den Landtagswahlen 2017. Damit ist Gelsenkirchen, auch was den Rückgang der Wahlbeteiligung angeht, unter den zehn nordrhein-westfälischen Städten mit den schlechtesten Werten.
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Besonders alarmierend ist die Beteiligung im Bezirk Schalke-Ost. Hier liegt sie bei nur 31,3 Prozent, nur jeder Dritte ging zur Wahl. Es sind dort ähnliche Werte wie schon bei der Kommunalwahl 2020, wo hier ebenfalls nur 30 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne gegangen sind. Und selbst bei der Bundestagswahl konnte sich nur jeder Zweite motivieren, hier in Schalke-Ost seine Stimme abzugeben. Unter 40 Prozent der Wahlberechtigten machten zudem in den Nord- und Süd-Bezirken von Horst und Bulmke sowie in Bismarck-West, Schalke-West und Hassel-Süd ihr Kreuz.
Extrem niedrige Wahlbeteiligung: Schalker sind „nicht interessiert“ und „pessimistisch“
Wer nach den Gründen für diese extrem geringe Wahlbeteiligung fragt, der kommt schnell auf die Bevölkerungsstruktur in Schalke zu sprechen: Fast 40 Prozent der Menschen und über 60 Prozent der Jugendlichen hier haben einen Migrationshintergrund, die Quote der Menschen, die Transferleistungen wie Hartz-IV in Anspruch nehmen, liegt bei über 27 Prozent. Als „nicht interessiert“, an der Gestaltung ihres Wohnorts teilzuhaben, und zugleich „pessimistisch“, was ihre Lebens- und Zukunftsgestaltung angeht, werden die Menschen hier in einer Forschungsarbeit des Sozialwissenschaftlers Harald Rüßler beschrieben. „Es gibt ein Ohnmachtsgefühl, die Leute sagen: Ich habe nie erlebt, dass jemand was für mich tut.“
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In einem Handbuch zur Untersuchung von Stadtquartieren hat der Professor der FH Dortmund genau auf Schalke geblickt und Empfehlungen ausgesprochen, wie die geringe Mitgestaltungsbereitschaft der Menschen angekurbelt werden kann. In Gelsenkirchen, das lobt Rüßler, passiere hier zwar inzwischen ziemlich viel. Mit sozialen Projekten und Quartiersarbeit schaffe man es, Leute aus prekären Verhältnissen auf Augenhöhe zu erreichen. „Aber ob sich das in politische Beteiligung übersetzt, ist eine andere Frage“, sagt er. Durch Sozialarbeit könne man den Menschen zwar das Gefühl geben, wertgeschätzt zu werden. „Aber Probleme wie Altersarmut kann man ja nicht auf Quartiersebene lösen.“ Da brauche es schon die große Politik. Und die müsse die soziale Ungleichheit im Land endlich ernsthaft angehen.
Politik-Experte: Keine schnellen Lösungen für Menschen in Armut
Ähnlich sieht dies auch Prof. Peter Imbusch von der Uni Wuppertal. Soziale Ungleichheit sei für die meisten Parteien geradezu „ein toxisches Thema“. Gebe es Lösungsvorschläge, dann seien diese nur langfristig angelegt und „oft so gestrickt, dass man nicht auf schnelle Abhilfe hoffen könnte“, so der Politik-Experte. „Trostpflästerchen“ wie das zuletzt vom Bund beschlossene, milliardenschwere Entlastungspaket zur Milderung der Folgen durch den Ukraine-Krieg hätten wiederum wenig Wirkung für Menschen in prekären Lebenslagen wie etwa in Schalke.
Wirklich helfen würden in Augen von Imbusch Maßnahmen wie Umverteilung im Steuersystem. Doch diese Themen würden von SPD, CDU, FDP und Grünen nicht richtig angefasst, um ihre aktuellen Wählerinnen und Wähler nicht zu verschrecken. Bei den Linken dagegen werde das „Klientel häufig auch nicht mehr bei den wirklich Abgehängten gesucht, sondern bei den Intellektuellen, die sich links gerieren.“ Die Armen, stellt Imbusch fest, „haben dagegen keine Stimme, um sich artikulieren zu können.“
Und die AfD? Die rechtspopulistische Partei hat bei vorigen Wahlen zwar viele Nichtwähler mobilisieren können, hat aber auch bei der Landtagswahl 2022 in ihren Hochburgen, wie eben Schalke-Ost oder Erle-Süd, eingebüßt. Enxhi Seli-Zacharias, die neue AfD-Landtagsabgeordnete aus Gelsenkirchen, kündigte deswegen schon am Wahlabend an, sich künftig wieder mehr auf Nichtwähler fokussieren zu wollen. Dass die AfD soziale Ungleichheit anvisiert, daran glaubt Prof. Rüßler allerdings nicht. „Die Wirtschaftspolitik der AfD ist hoch neoliberal.“