Mülheim. Nach 31 Jahren verlässt Leiter Jürgen Zentgraf das Umweltamt. Wie er über seine Amtszeit zwischen Fluglärm und Kaltluftschneisen denkt.

Vor 31 Jahren hatte Jürgen Zentgraf eine verlockende, weil bis dato noch nicht dagewesene Stelle in der grünen Ruhrstadt angetreten: Umweltamtsleiter. Doch der Pionier hatte bald schon mehr als Aufbauarbeit zu leisten: Zoff um Kaltluftschneisen, Flugzeuglärm, Abfallkosten und Hundekotbeutelbehälter gehörten mit zum Tagesgeschäft der ,sympathischen Stadt’. Wie der nun ausgeschiedene Leiter über seine Amtszeit denkt, verrät er WAZ-Redakteur Dennis Vollmer.

Wie fing ihre Zeit als Umweltamtsleiter in Mülheim an?

Am 1. Mai 1990 habe ich hier als erster Umweltamtsleiter überhaupt angefangen. Die Stelle war neu. Das heißt, ich habe die Arbeit am 1. Mai 2021 genau nach 31 Jahren beendet. Ich war einer dieser Quereinsteiger. (lacht) Ich habe in Heidelberg Chemie und Biologie studiert und promoviert. Dann habe ich in Mülheim 1986 erst bei einem Gartenbauer mit angeschlossenem Ingenieurbüro relativ schnell eine Stelle bekommen und bin hierhin gezogen. Irgendwann habe ich mich dann auf zu neuen Ufern gemacht.

„Lärm ist fast das größte Umweltproblem“: Jürgen Zentgraf beschäftigte sich 2009 mit der Mülheimer Lärmkarte. Bis heute sind „wir bezogen darauf wenig weiter gekommen“, sagt er.
„Lärm ist fast das größte Umweltproblem“: Jürgen Zentgraf beschäftigte sich 2009 mit der Mülheimer Lärmkarte. Bis heute sind „wir bezogen darauf wenig weiter gekommen“, sagt er. © Andreas Köhring

Was hat Sie an der Stelle interessiert?

Ich habe den Vorteil gesehen, dass die Arbeit als Umweltamtsleiter sehr umfassend ist. Ich beacker ein weites Feld: Biologie, Chemie, Geologie, Geografie bis hin zu den Ingenieurwissenschaften. Das findet man in dieser Breite kaum in einem anderen Beruf.

„Müga, Saarner Aue und unsere Wälder sind ein Pfund.“ Jürgen Zentgraf setzt sich nach dem Ausscheiden aus der Verwaltung in der Klimaschutzinitiative ein.
„Müga, Saarner Aue und unsere Wälder sind ein Pfund.“ Jürgen Zentgraf setzt sich nach dem Ausscheiden aus der Verwaltung in der Klimaschutzinitiative ein. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

Und eine hohe Verantwortung – hat Sie die auch gereizt?

Die ist mit der Position untrennbar verbunden.

Einer der ältesten Sätze von Ihnen, den ich in unserer Zeitung finden konnte, stammt von 2007. Haben Sie eine Ahnung, um welches Thema es geht?

Hm - da hatten wir die ersten Streitigkeiten über Abwassergebühren ...

Ich lese ihn mal vor: „Es ist auffällig, dass die Gerichte die wirtschaftlichen Aspekte der Flughäfen deutlich stärker berücksichtigen als die etwa von anderen Gewerbetreibenden. Dabei ist längst erwiesen, dass Lärm für viele Menschen die größte Umweltbelastung darstellt.“ Was denken Sie heute angesichts der neuen alten Debatte um den Mülheimer Flughafen?

Dass wir bezogen auf den Lärm wenig weiter gekommen sind. Die Sensitivität der Bevölkerung ist sicher noch höher. Es gibt in meinem Bereich heute hauptsächlich zwei Themen: Natur und Artenschutz – und wir haben den Lärm. Das ist fast das größte Umweltproblem der letzten 20 Jahren – davon sind fast alle Menschen betroffen. Auch bei denen, deren subjektive Empfindlichkeit nicht so hoch scheint, weiß man, dass die physiologischen Folgen die gleichen sind. Es dringt nur nicht so stark in deren Bewusstsein.

Was Sie in Debatten ausgezeichnet hat, ist ihre humorige, oft feinsinnige Art sich von den manchmal harten Konflikten zu distanzieren.

Ja. Man kann nicht immer alles an sich heranlassen. Es gibt Fälle, bei denen ich eine Beschwerde persönlich gut nachvollziehen kann, aber nicht helfen kann, weil die Gesetzesvorschriften das nicht zulassen. Denn letzten Endes vertrete ich eine Ordnungsbehörde. Der Fluglärm ist ein schönes Beispiel. Das „Fluglärmschutzgesetz“ heißt offenbar so, weil es den Fluglärm schützt. . .

Das war nun so eine typische – hintergründige – Antwort, oder?

Ja. (lacht) Ich bin ja keine Maschine, die nur ein Gesetz umsetzt, sondern ein Mensch, der wie jeder andere auch eine Meinung zu Dingen hat. Aber hinter diesem Satz steht auch die Tatsache, dass Fluglärm lauter sein darf. Das ist vergleichbar mit Schienenlärm. Jemand hat in den 70er Jahren mal behauptet, der werde positiv wahrgenommen – deshalb darf er drei Dezibel lauter sein ohne eine wissenschaftliche Grundlage. Gesetze werden durch wirtschaftliche Grundlagen geprägt, auch Politik wägt da ab. Wenn Sie manche politischen Sitzungen nehmen – die können Sie auch nicht immer ernst nehmen. (lacht)

Die Mülheimer wertschätzen an ihrer Stadt die vielen grünen Ecken, Sie leben selbst in Mülheim: Wie ist Ihr Blick auf die Stadt?

Für mich ist die Natur in Mülheim wesentlich. Wenn ich an die Ruhr, die mitten durch die Stadt fließt, denke, wenn ich die Müga, die Saarner Aue und unsere Wälder sehe, dann ist das ein Pfund, mit dem die Stadt wuchern kann. Ich lebe sehr gerne in Mintard, es ist nach wie vor beschaulich dort – mit dem Aspekt, dass wir im Ballungsraum Ruhrgebiet sind. Deshalb bin ich froh, dass ich morgens zwar die Ruhrtalbrücke höre – aber auch die Vögel.

„Ich höre zwar die Ruhrtalbrücke, aber auch die Vögel: Jürgen Zentgraf (zweiter von rechts), wirkt mit im Vorstand des Vereins „Wir in Mintard“. Mit ihm zu sehen; Vorsitzende Sandra Bierdel, Kassierer Michael Großboimann (li.) und Beisitzer Fred Momm (re).
„Ich höre zwar die Ruhrtalbrücke, aber auch die Vögel: Jürgen Zentgraf (zweiter von rechts), wirkt mit im Vorstand des Vereins „Wir in Mintard“. Mit ihm zu sehen; Vorsitzende Sandra Bierdel, Kassierer Michael Großboimann (li.) und Beisitzer Fred Momm (re). © Funke Foto Services | Martin Möller

Hat die Naturliebe für Sie auch Schattenseiten? Sie haben sich mit den großen Problemen wie Fluglärm, Feinstaub, Kaltluft-Schneisen, Vandalismus in den Ruhrauen, aber auch kleinteilig mit Altglascontainerstandorten und Hundekotbeutelbehälter herumschlagen müssen.

Das ist ja oft so, dass man dann, wenn man von einer Maßnahme betroffen ist, die Liebe zur Natur entdeckt. Es gab einen Fall, da ist jemand an eine Straße gezogen und hat vier Wochen später behauptet, der nahe Altglascontainer sei der schlimmste in ganz Mülheim, da werden Drogen verkauft – vorher hatten wir nie eine Beschwerde dort. Manchmal hat man das Gefühl, man wird veräppelt, dann hilft Humor weiter. Aber jeder hat das Recht für seine Belange einzutreten.

Bei der Mülheimer „Taskforce“ gegen Hundekot (2013) saß auch Jürgen Zentgraf (l.) mit am ,runden Tisch’ mit Ordnungsamt, Bürgeragentur und Grünflächenamt.
Bei der Mülheimer „Taskforce“ gegen Hundekot (2013) saß auch Jürgen Zentgraf (l.) mit am ,runden Tisch’ mit Ordnungsamt, Bürgeragentur und Grünflächenamt. © WAZ Fotopool | Lars Fröhlich

Manches lief schärfer ab: Sie mussten 2010 ihren Weihnachtsurlaub abbrechen, weil die MBI der Verwaltung öffentlich vorgeworfen hatt, sie habe Abwassergebühren veruntreut. Treffen Sie solche Anwürfe?

Für mich war das die Grenze, wenn man sachliche Argumente durch persönliche Anfeindungen ersetzt. Ich denke, so etwas hat keinen Platz in der Zeitung, dafür gibt es Verwaltungsgerichte, die über die sachliche Frage entscheiden. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Wenn aber eine Ratspartei versucht, das zu instrumentalisieren, halte ich das für den falschen Weg.

Wie haben Sie den Ärger am Ende des Tages abgeschüttelt?

An den meisten Tagen war der Ärger schon verschwunden, wenn ich aus der Tiefgarage bzw. dem Parkhaus gefahren bin. Ich habe relativ schnell gelernt, abzuschalten. Und ansonsten kann man im Garten in Mintard ganz gut die Seele baumeln lassen.

Welche Ziele haben Sie in Ihrem Amt erreicht?

Ich habe 1990 ja nicht mit hochfliegenden Zielen angefangen, sondern erstmal eine funktionierende Umweltverwaltung aufgebaut. Dabei hatte ich den Vorteil, dass die Bedeutung des Umwelt- und Naturschutzes in der Öffentlichkeit in dieser Zeit gewachsen ist, so dass ich bezogen auf Mülheim oft nur einen kleinen Schubs zu geben brauchte. Und natürlich gibt es Einzelprojekte, die im Gedächtnis bleiben: Sanierung der ehemaligen Zinkhütte, neuer Landschaftsplan, Neuausrichtung der Abfallwirtschaft im Jahr 2000, Sanierung des Rumbachkanals und, und, und.

Was hätten Sie gerne noch umgesetzt?

Es gibt viele lange laufende Projekte – wenn man alles zu Ende bringen will, was man angefangen hat, kommt die Rente nie. . .

Sie machen aber weiter als Teil des Vorstands in der Initiative für Klimaschutz: Wie kam es dazu?

Der alte Vorstand hatte mehrere Wahlperioden hinter sich und wollte einen Neuanfang. Hinzu kommt die veränderte Situation der Klimainitiative durch die weggefallenen Zuschüsse der Stadt. Offenbar hat man befürchtet, ich würde mit Eintritt in die Rente in ein tiefes Loch fallen und sich fürsorglich um mich gekümmert. . . Außerdem war Klimaschutz viele Jahre im Umweltamt, so dass ich bei diesem Thema nicht ganz ahnungslos bin.

Kann man jetzt Forderungen in Sachen Umwelt- und Klimaschutz erwarten, die die Stadt nie umgesetzt hat?

Die Klimainitiative wird und kann die Stadt nur auf ihrem Weg in eine klimaneutrale Zukunft unterstützen. Was dafür zu tun ist, muss die Klimainitiative der Stadt nicht sagen, die weiß das selbst. Allerdings gibt es natürlich Randbedingungen, insbesondere den Finanzmangel, die die Handlungsmöglichkeiten der Stadt reduzieren. Ich kann davon ja selbst ein Lied singen. Da hilft es auch nicht, alles Mögliche zu fordern – in dem Wissen, dass die Stadt der Forderung nicht nachkommen kann. Aber im Einzelfall werden wir schon unsere Stimme erheben und auch mal einen Finger in die Wunde legen.