Mülheim. Die Debatte zur Bundestagswahl an der Mülheimer Freilichtbühne bot Zündstoff: Wie die Kandidierenden von Klimaschutz bis Armut argumentierten.
Am Ende sind fast alle Daumen oben: Den allermeisten der rund 200 Besucher hat die politische Debatte mit sechs Bundestagskandidatinnen und -kandidaten an der Freilichtbühne für ihre Wahlentscheidung am 26. September also weitergeholfen. Und nach gut drei Wochen eines eher inhaltsleeren Wahlkampfs sind am Montagabend auch die meisten der Podiumsgäste auf ,Betriebstemperatur’ angekommen.
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AfD unter Druck: „Sie bringen keine konstruktiven Vorschläge ein, über die wir diskutieren könnten“
Und mancher mäanderte zumindest sprachlich schon im erhitzten Bereich: „Totalversagen“ warf AfD-Kandidat Alexander von Wrese der Bundesregierung in Sachen Pandemie-Bekämpfung vor, die die „Partei-Apparatschiks der Altparteien“ seien ebenso „Brandstifter“ einer gesellschaftlichen Spaltung. Sebastian Fiedler (SPD) hielt der AfD-Mann „Arroganz“ vor und der Grünen Franziska Krumwiede-Steiner in Sachen Klimaschutz eine „Hypermoral“.
So konnte von Wrese mit reichlich Gegenwind kalkulieren – das Publikum protestierte lautstark gegen die verbalen Angriffe der AfD. Und die „Alternative“ inszenierte sich abermals in der Rolle der Diskriminierten.
Kontra erhielt der Kandidat der Blauen aber auch von den Podiumstischen. „Was Sie hier vorführen, ist das Gegenbeispiel von Diskussion. Ihre Partei lebt nur davon, destabilisierende Komponenten rauszutun, die völlig austauschbar sind. Sie bringen dagegen keine konstruktiven Vorschläge ein, über die wir diskutieren könnten“, entgegnete Fiedler.
Welche Aufgaben warten auf die zukünftige Regierung aufgrund von Corona?
Ideen für die Zukunft aber lieferte der Abend mit CDU, SPD, Grüne, FDP, Linke und AfD – jenseits rückwärtsgewandter Rhetorik – durchaus: Welche Aufgaben warten auf die zukünftige Regierung aufgrund von Corona? Astrid Timmermann-Fechter (CDU) stellte die bereits von der Bundesregierung geleisteten Hilfen in Form von Fonds und Hypotheken in den Vordergrund. Die CDU setze in der kommenden Legislaturperiode auf „normales Wachstum“ und schließe Steuererhöhungen – trotz belasteter Haushaltskassen – aus. Man müsse aber „schneller, unbürokratischer und digitaler“ werden.
Ähnlich positionierte sich die FDP. Ein „Entfesselungsgesetz, um Wachstum zu generieren“ forderte Joachim von Berg. Die Schuldenbremse aber sollte eingehalten werden, um in Zukunft weitere Krisen bewältigen zu können. Dagegen bekannte sich die SPD zu einer Finanztransaktionssteuer, die seit Jahren in der Diskussion steht. Allein 2021 seien 260 Billionen Euro an den Börsen oder mit Wertpapieren umgesetzt worden – selbst eine geringe Besteuerung von weniger als einem Prozent könnte Milliardenbeträge in die Bundeskasse spülen, argumentierte Fiedler.
Sparen wollen auch die Grünen nicht. Eine Rückkehr zur alten Schuldenbremse wäre für Franziska Krumwiede-Steiner „der falsche Weg“ angesichts der Herausforderung von Digitalisierung, der Bildung von Kindern und Jugendlichen und der Klimakrise – „wir werden die nicht lösen, wenn wir jetzt sparen“.
„Wir stecken noch mitten in der Krise“, mahnte Eliseo Maugeri (Die Linke), Corona habe die Missstände erst sichtbar gemacht: Es müsse daher etwa mehr in Schulen investiert werden. Der jüngste Kandidat der Linke und auf dem Podium plädierte für eine globale Sicht auf die Pandemie. So sollten die Impfpatente aufgehoben werden, um mehr Impfstoff gerade für ärmere Länder herstellen zu können.
Wie gelingt es, die Gesellschaft wieder näher zusammenzubringen?
Wie aber ist der gegenwärtige Zustand unserer Gesellschaft angesichts tiefer Spaltung bei der Frage der Pandemiebekämpfung einerseits und höchster Solidarität gegenüber den Opfern der Hochwasserkatastrophe andererseits?
Eliseo Maugeri sieht zwar die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels gegen den Klimawandel, „der vor der Haustür steht“. Das habe die Hochwasserkatastrophe allen deutlich gemacht. Doch dieser Systemwechsel müsse sozialökologisch sein, um eine gesellschaftliche Spaltung zu verhindern.
Timmermann-Fechter sieht die Spaltung dagegen nicht: „So weit sind wir nicht auseinander, wie es geschildert wird.“ Das zeigten die vielen Helfer – teils aus anderen Bundesländern – die in die Hochwasserkrisengebiete gefahren sind. Zudem würde ja bereits „die Hälfte des Bundeshaushalts von 300 Milliarden in Arbeit und Soziales“ fließen, argumentierte die CDU-Kandidatin, natürlich könne man schauen, wo man etwas verbessere. So solle man auch künftig „mehr zu Hartz4 hinzuverdienen“ können.
Joachim vom Berg (FDP) widerspricht: „Unsere Gesellschaft hat es schon nötig, aber ich würde die Spaltung anders angehen wollen.“ So müsse die Politik mehr erklären und mit Bürgern reden. Alexander von Wrese (AfD) forderte von der Politik „andere Meinung differenziert ausdiskutieren“ zu müssen, „mit der AfD zu sprechen, bringt nicht viel: Rassismus ist keine Meinung“, hielt Krumwiede-Steiner dagegen und sprach sich für ein „Demokratiefördergesetz“ aus.
Wie umgehen mit Flucht und Migration?
Welche Pläne haben die Parteien in der Flüchtlingspolitik?, fragte die Flüchtlingsreferentin des evangelischen Kirchenkreises, Saskia Trittmann. Ist die rigorose Haltung der „Alternative“ zur Migration bedrohter Menschen nicht unmenschlich?, sprach WAZ-Moderator Mirco Stodollick gezielt den AfD-Kandidaten an. „Nein. Wir sagen nur, dass die Hilfe für die Menschen vor Ort geschehen soll“, erwiderte von Wrese und nutzte abermals die Chance für scharfe Kritik an der Bundesregierung, die Migranten seit 2015 „unkontrolliert“ in die Bundesrepublik lasse.
CDU-Frau Timmermann-Fechter konterte gelassen: „Seit 2015 ist viel passiert. Herr von Wrese, ich verstehe, dass sie an der Behauptung festhalten wollen, aber die zieht langsam nicht mehr.“ Einig waren sich die übrigen Parteien zumindest in einem Punkt: Mülheim kann weitere Migranten etwa aus Afghanistan aufnehmen, die Kapazitäten sind da. FDP und CDU plädierten zudem für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, die Grünen für ein Ausbildungsbleiberecht, um Geflüchteten eine Perspektive zu bieten.
Wie die Politik die Kinderarmut bekämpfen will
Wenig Dissenz zeigten die Parteien bei der Bekämpfung von Kinderarmut. Ein gemeinsamer Ansatz: Eltern stärken etwa durch flexiblere Arbeit und mehr Geld für Kinder bereitstellen. Grüne, Linke und SPD sehen die Notwendigkeit für eine Kindergrundsicherung, die nicht - wie das Kindergeld – die meisten Vorteile für höhere Einkommen böte. Die FDP will ein „Kinderchancengeld“ einrichten. Krumwiede-Steiner (Grüne) sieht weiteren Nachbesserungsbedarf bei der Randzeitenbetreuung gerade für Alleinerziehende.
Und wie lässt sich der Klimawandel bekämpfen?
Auch in der Frage nach Maßnahmen gegen den Klimawandel liegen zumindest SPD, Grüne und Linke nah beieinander. Er sei „die größte Bedrohung unserer Zeit“ versprach Krumwiede-Steiner eine „Taskforce“ und ein Klimaministerium im Falle einer Regierungsbeteiligung der Grünen. Der Kohleausstieg solle bereits 2030 angestrebt werden. Hier stimmte auch die Linke zu: „Wir brauchen ein besseres Klimaschutzgesetz.“
Fiedler will dafür eine Strategie vorlegen, die auf Förderung von Solarenergie auf privaten Häusern und mehr Windkraft setzt. Die FDP will „dem Klimawandel mit Innovation begegnen“. Deutschland solle Vorreiter sein. Joachim vom Berg schwebt nicht nur ein schärferer Handel mit CO2-Emissionen vor, sondern auch mehr Forschung, um CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen.
SPD und Grüne heimsten viele Bälle ein
Die Podiumsdiskussion an der Freilichtbühne wurde organisiert und umgesetzt von dem Evangelischen Kirchenkreis, dem Katholischen Stadtdekanat und der WAZ/NRZ.
Es diskutierten die Kandidatinnen und Kandidaten der sechs größten Parteien im Bundestag: Astrid Timmermann-Fechter (58 Jahre, CDU), Sebastian Fiedler (48, SPD), Franziska Krumwiede-Steiner (36, Bündnis90/Die Grünen), Joachim vom Berg (46, FDP), Alexander von Wrese (42, AfD) und Eliseo Maugeri (18 Jahre, Die Linke).
Am Ende der Debatte durften die Zuschauer mit Bällen entscheiden, welche Kandidaten sie am stärksten überzeugt hatten: SPD und Grüne landeten mit deutlichem Vorsprung vor den Mitbewerbern.
Zurückhaltend hingegen zeigte sich die CDU. Timmermann-Fechter will zwar alternative Energien durch ein „Planungsbeschleunigungsgesetz“ antreiben, doch an der Zielmarke, die Klimaneutralität erst 2045 zu erreichen, hielt sie fest.