Mülheim. Jasmin Ebrahimkhil ist Ärztin und Mutter. Sie ist heilfroh, dass Mina (9) in Mülheim aufwächst – und nicht in der alten Heimat unter den Taliban.
1976 in Kabul geboren, als Jugendliche vor dem Krieg in Afghanistan geflohen, in Kassel zur Schule gegangen, in Göttingen studiert, seit 2016 selbstständige Internistin in Mülheim-Saarn, mit Mann und Kind in Selbeck zu Hause: Das ist, kurz umrissen, das Leben von Dr. Jasmin Ebrahimkhil. Sie hatte viele Chancen und sie hat sie genutzt. „Ich bin Gott jeden Tag dankbar dafür.“ Auch wenn Deutschland längst ihr Zuhause ist: „Afghanistan ist meine Heimat.“ Dass die Taliban nun dort herrschen, viele Menschen um ihr Leben bangen und Frauen womöglich aller Chancen beraubt sind, findet die 45-jährige Ärztin entsetzlich. „Es ist ein Altraum. Es macht mich wütend und traurig.“
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Frau Dr. Ebrahimkhil, wie informieren Sie sich über das Geschehen in Afghanistan?
Dr. Jasmin Ebrahimkhil: Ich schaue Nachrichten im deutschen Fernsehen und ich bin viel im Internet unterwegs. Mein Mann und ich werten verschiedene Quellen aus, auch Meldungen direkt aus Afghanistan. Zum Glück kann ich meine Muttersprache Dari lesen, schreiben und sprechen. Wir fragen uns oft: Was von den Informationen stimmt? Was sind Fake News, was ist manipuliert, was völlig einseitig dargestellt? Es fällt zum Beispiel schwer, einem Moderator zu glauben, der behauptet, die Taliban hätten überhaupt nichts dagegen, wenn Frauen arbeiten.
Wie sehr leiden Sie mit den Afghaninnen und Afghanen, wie eng ist Ihre Verbindung zum Heimatland noch?
Wir haben Familie dort; eine Schwester meines Mannes lebt in Kabul. Sie ist erstaunlich entspannt und versucht immer, die verängstigten Angehörigen im Ausland zu beruhigen. Man sei ein solches Leben ja gewohnt, sagt sie, und dass wir uns keine Sorgen machen sollen. Wir leben mittlerweile fast alle im Ausland. Meine Mutter, meine drei jüngeren Geschwister und ich sind Ende 1988 geflohen, kurz vor meinem 13. Geburtstag.
Was waren die Gründe für die Flucht?
Es herrschte Krieg zwischen den Sowjets und den Mudschahedin. Es gab Bombenanschläge und Raketenangriffe. Ich erinnere mich gut an einen Tag auf dem Spielplatz, als man von Weitem einen Angriff hörte. Mein Vater hat uns reingerufen, dabei wollten wir unbedingt weiterspielen. Zehn Minuten später hat es dort Kinder erwischt. Schon am nächsten Tag fanden die Trauerfeiern statt. Mein Vater hat nachts auch oft Musik angemacht, damit die Raketen nicht so laut waren und wir schlafen konnten. Es fielen Bomben nahe der Schule. Meine Eltern hatten große Angst um uns. Da mein Vater afghanischer Botschafter war, hatte er Kontakte und wir haben es schließlich geschafft, nach Deutschland zu kommen. Er ist zunächst vor Ort geblieben, wollte seinem Land helfen. Zum Glück konnte meine Mutter ihn nach vier Monaten zur Ausreise überreden. Im Moment sitzen die beiden rund um die Uhr vor dem Fernseher. Leider kann man zurzeit nur wenig anderes tun als beten.
Wie war die Ankunft in Deutschland? Haben Sie sich willkommen gefühlt? Und wie bewerten Sie die Situation der heutigen Flüchtlinge?
Wir sind damals bei den Großeltern in Kassel untergekommen, ich bin dort zur Schule gegangen. Am Anfang hatte ich es schwer, wir mussten ja bei Null anfangen. Die Sprache war das Hauptproblem. Ich habe meine Klassenkameraden beneidet, die einfach frei sagen konnten, was sie wollten. Wenn ich mich mal getraut habe, hatte ich immer Herzklopfen. Ich wollte nichts falsch machen. Zum Glück hatte ich keine großen Probleme mit den Fächern. In Mathe waren wir zum Beispiel schon viel weiter gewesen als die deutschen Kinder. Als ich die Sprache endlich gut konnte, wurde es besser. Trotzdem: Man sitzt immer zwischen zwei Stühlen. Ich hoffe, dass die Flüchtlinge jetzt gut aufgenommen werden. Man sollte Mitgefühl mit ihnen haben. Sie verlassen ihr Land, um zu überleben. Sie wollen, dass ihre Kinder eine Zukunft haben. Ich wünsche mir, dass sie ähnliche Chancen bekommen, wie ich sie damals hatte.
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Wie ging es weiter mit Ihrem Leben? War es damals normal, als junge, afghanische Frau zur Uni zu gehen? Oder mussten Sie dafür kämpfen?
Seit meinem sechsten Lebensjahr wollte ich Ärztin werden, Menschen helfen. Ein Vorbild gab es nicht in der Familie, aber für mich war das klar. Und so lange ich denken kann, hat meine Familie mich darin bestärkt: Meine Eltern wollten immer, dass ich etwas aus meinem Leben mache, dass ich studiere und unabhängig werde. Damit bin ich aufgewachsen, das spielte eine große Rolle. Meine Mutter ist Jahrgang 1956, sie ist normal zur Schule gegangen, hat als Beamtin gearbeitet und vier Kinder bekommen. In den 70ern war es sogar normal, dass Frauen im Ausland studieren. Man sah viele ohne Kopftuch. Es war wie in Persien zu Zeiten des Schahs. Ich kannte ein buntes, modernes Afghanistan. Leider hat das Land dann einen immensen Rückschritt gemacht. Was heute dort passiert, ist unvorstellbar.
Bekommt ihre neunjährige Tochter Mina etwas von den Geschehnissen mit? Stellen Sie sich manchmal vor, wie es wäre, wenn Sie mit ihr jetzt in Kabul leben würden?
Wenn wir dort wären, hätte Mina auf keinen Fall die Möglichkeiten, die ich damals hatte. Sie wäre nur zu Hause und ich hätte riesige Angst um sie. Ihre Zukunft wäre unter den aktuellen Umständen in Gefahr. Mein Mann und ich unterhalten uns oft über die Situation vor Ort. Mina bekommt das natürlich mit. Sie stellt Fragen und fängt an zu verstehen. Sie weiß, dass wir Glück haben, hier zu leben. Es herrscht Frieden, wir haben genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Es ist nicht selbstverständlich, dass man einfach vor die Tür gehen kann und alles in Ordnung ist.
Was glauben Sie, wie es den Frauen in Afghanistan zurzeit wirklich geht?
Ich weiß es nicht, das kann von hier aus keiner wirklich sagen. Mal hört man, dass es kaum Einschränkungen gibt, dann wieder, dass sie gar nicht arbeiten dürfen und sich unter Lkw verstecken müssen, um draußen nicht gesehen zu werden. Im Moment ist alles total unklar. Ich weiß nicht, was ich glauben kann. Vielleicht wird es nicht so schlimm wie vor 20 Jahren, vielleicht haben die Taliban sich tatsächlich geändert. Damals mussten Mädchen heiraten, sobald sie als heiratsfähig galten. Frauen durften nicht ohne Mann aus dem Haus gehen und nicht allein verreisen. Es gab keine Bildung für sie und keine Arbeit. Leider glaube ich trotz mancher Beteuerung nicht, dass es heute anders laufen wird.
An virtueller Impfkampagne der Bundesregierung beteiligt
Im Ausland zu leben, war für Jasmin Ebrahimkhil keine ganz neue Erfahrung, als sie Ende der 80er nach Deutschland kam. Als Kind eines Diplomaten hatte sie schon früh mit der Familie zwei Jahre in den USA verbracht und dort den Kindergarten besucht.
Die Internistin ist 2013 in die Saarner Praxis von Dr. Georg Heinrichs eingestiegen und hat sie 2016 übernommen. Sie arbeitet als Hausärztin und aktuell als Impfärztin, war unter anderem in Altenheimen tätig und im Broicher Impfzentrum. Ab kommender Woche wird sie auch an Schulen impfen. Ebrahimkhil war beteiligt an einer virtuellen Impfkampagne der Bundesregierung unter dem Hashtag #Impfwissen. In einem Video erklärt sie Flüchtlingen in ihrer Muttersprache Dari, warum der Piks sinnvoll ist.
Dr. Abdullah Ebrahimkhil (49), ihr Ehemann, ist Urologe und Oberarzt an einer Düsseldorfer Klinik. Er verließ Afghanistan einst mit einem Stipendium im Gepäck, um in Berlin zu studieren. Ähnlich wie ihre Familie habe auch ihr Mann „mit Leib und Seele dazu beigetragen, dass ich das Studium fertig mache“, erzählt die Medizinerin. „Ich hatte Glück, ich hatte immer 100-prozentige Unterstützung“ – anders als so viele Frauen, die sich heute in Afghanistan behaupten müssen.
Welche Zukunft wünschen Sie Ihrem Heimatland? Bedauern Sie den Abzug der Amerikaner?
Dass die Amerikaner gegangen sind, macht mich nicht traurig. Mich stört, dass die Taliban an der Macht sind. Es ist ein großes Rätsel, wie das so schnell passieren konnte. Ich hätte mir gewünscht, dass es weitergeht wie unter der letzten gewählten Regierung, natürlich ohne Terroranschläge, die es ja leider immer wieder gab. Abgesehen davon war es in vielen Bereichen gut: Wir hatten Frauen an den Unis, sie konnten arbeiten gehen. Es gab freie Wahlen, auch wenn die nicht ganz so funktioniert haben, wie wir uns das gewünscht hätten. Afghanistan braucht eine vernünftige Regierung, regelmäßige Wahlen und Männer und Frauen, die gleichberechtigt sind. Im Moment sehe ich leider schwarz für die Zukunft meines Landes. Es lässt sich alles so schwer einschätzen. Über Politik rede ich deshalb selten, was soll man da auch sagen. Ich spreche mit meiner Mutter vor allem über die immensen Verluste, über die tragischen Schicksale der Menschen.