Bochum. Die Familie von Mariam B. floh schon in den 1980er-Jahren nach Deutschland. „Ich hätte nie gedacht, dass Deutschland Afghanistan im Stich lässt.“

Wie gerne wäre sie noch einmal nach Kabul gereist. Als Besucherin der alten Heimat und in einer besseren Welt. Hätte sich ihren Vater geschnappt, den alten Mann, gemeinsam hätten sie „ein paar Runden durch die Stadt gedreht, geguckt, wo wir gewohnt haben, und das Grab meiner Oma besucht, wenn wir es gefunden hätten“. Doch diese Geschichte hat kein gutes Ende mehr.

Lange Zeit hielt sie es für möglich. Mariams Familie war in den 1980er-Jahren aus Afghanistan geflohen, damals noch vor den Mudschaheddin - da war sie noch ein Kind. Nie mehr waren sie da, aber die letzten 20 Jahre erschienen der Bochumerin wie Fortschritt, wenngleich Fortschritt in größter Zeitlupe.

„Ich bin gesegnet, ich liebe mein Bochum und ich liebe mein Kabul“

Am Internationalen Flughafen von Kabul versuchen viele Menschen, au dem Land zu kommen. Foto: -/kyodo/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Am Internationalen Flughafen von Kabul versuchen viele Menschen, au dem Land zu kommen. Foto: -/kyodo/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ © dpa | -

„Die Hoffnung war da, dass man gedacht hat, es wird besser, sehr langsam besser“, sagt sie. „Für mich ist das nicht zu Ende gewesen. Klar, man ist hier andere Geschwindigkeiten gewöhnt, aber weil es so langsam war, hat man es zuletzt für gescheitert erklärt.“

Mariam B. ist ungefähr 130-prozentig integriert. Keine Verwandten mehr in Afghanistan, Büroangestellte, perfektes Deutsch, deutscher Ehemann, gemeinsames Kind in der Grundschule, Reihenhaus, Garten, Kohlrabipflanzen. So integriert ist sie, dass sie lange nicht ahnte, dass sie nicht nur die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Sondern auch noch die afghanische: Da Afghanistan niemanden daraus entlässt. „Ich bin gesegnet, ich liebe mein Bochum und ich liebe mein Kabul.“

„Je mehr ich erklärt habe, desto mehr habe ich mich verheddert“

Die Bilder, die sie jetzt sieht aus Afghanistan, die Nachrichten, die sie empfängt, die machen sie fassungslos. „Ich habe die Bilder gesehen und hätte nie gedacht, dass Deutschland die Menschen in Afghanistan so im Stich lässt. Da gibt es nicht nur Taliban, da sind Frauen und Kinder und viele unschuldige Menschen.“ Die für die Regierung oder für den Westen gearbeitet hätten, „die sitzen jetzt in Verstecken. Keiner wird sie herausholen.“

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Das Kind hat Mariam B. für dieses Gespräch hinausgeschickt, zu hellhörig, die Kleine. Erst vor kurzem hatte sie im Autoradio die Nachrichten aus Kabul gehört, die Eltern hatten nicht aufgepasst. Mama, was machen da die Taliban? „Je mehr ich erklärt habe, desto mehr habe ich mich verheddert“, sagt die Mutter: „Sie hat ein Gespür dafür, wenn ich nervös werde.“ Am Ende fragt die Tochter: „Wenn sie jetzt Kabul haben, werden sie demnächst auch nach Deutschland kommen?“

Anfangs hat sie die Verhandlungen über einen Abzug nicht ernst genommen

Oder gestern, später Abend. Die Schwester schreibt: „Oh Gott, hast du die Nachricht gehört?“ Mariam antwortet: „Bitte nicht jetzt, sonst kann ich nicht schlafen.“ Da scheibt die Mutter: „Hast du gehört, die Taliban wollen, dass die 15-jährigen Mädchen herausgegeben werden.“ Bei B. beginnt stundenlanges Kopfkino: „Es ist richtig, richtig schlimm.“

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Anfangs hatte sie die Verhandlungen, die konkreter werdenden Pläne für einen Abzug des Westens nicht ernst genommen. „Ich habe gedacht, das können die nicht machen. Die dürfen nicht abziehen. Ich dachte, die merken das schon, dass sie bleiben müssen.“ Vorbei.

Was jetzt passiert? Zurück auf 2001? Zurück in die Steinzeit? „Scharia. Keine Menschenrechte. Kleine Mädchen werden zwangsverheiratet. Wird man solche Bilder einfach hinnehmen?“ An die Erzählung von moderaten Taliban glaubt sie nicht. „Sie folgen ja den Gesetzen der Scharia. Was heißt moderat? Dass einem Dieb nicht die Hand, sondern nur ein Finger abgehackt wird?“

Erinnerungen an die Flucht: Explosionen und Ruinen

Im Gespräch mit der WAZ erinnert sie sich auch an ihre eigene Flucht.
Im Gespräch mit der WAZ erinnert sie sich auch an ihre eigene Flucht. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Und Flüchtlinge werden kommen. So, wie ihre Familie gekommen ist. „Wir waren politisch verfolgt. Meine Eltern sollten irgendwie kooperieren. Als ich einschlafen sollte, kamen Männer, gingen mit meinem Vater weg zu einem Gespräch. Ab da stand fest, dass meine Eltern weg wollten.“ Nach Deutschland, der Vater war ja Deutschlehrer.

Von der eigentlichen Flucht hat sie nur „Bildfetzen im Kopf, die halt auftauchen“. Da war noch eine Explosion auf dem Marktplatz in Kabul; gesplitterte Fensterscheiben; die kleine Schwester, wie sie im Flur um Hilfe betet. Auf dem Weg raus schläft die Familie in Ruinen, hält sich dort auch tagsüber auf; nachts geht es auf dem Rücken von Pferden im Schritttempo weiter Richtung Pakistan, Schmuggler führen sie an. „Uns Kindern wurde gesagt, wir besuchen die Hochzeit eines Onkels in Pakistan.“ Den Onkel hatte zwar nie jemand kennen gelernt, aber „in Afghanistan sagt man aus Respekt zu jedem Menschen, der älter ist, Onkel oder Tante.“

Der Traum von Kabul ist ausgeträumt. Furchtbare Bilder. „Ich hoffe, dass es aufhört“, sagt Mariam. „Ich hoffe, dass das rückgängig gemacht wird.“ Pause. Dann: „Ich hoffe, dass ich aufwache.“