Mülheim. Mülheimer mit afghanischen Wurzeln machen sich Sorgen um ihre Freunde und Verwandten in der Heimat. Sie berichten von Angst und Hilflosigkeit.
Erst in Deutschland hat Mohammed Mahdi Aahdi zum ersten Mal erfahren, was Freiheit bedeutet. „Als ich geboren wurde, herrschte in Afghanistan schon Krieg“, sagt der 32-Jährige. Jahrelang erlebte er den Terror der Taliban. Mit Sorgen und Entsetzen blickt der Mülheimer nun auf die schrecklichen Geschehnisse in seiner Heimat.
Ende 2015 flüchtete er mit seiner Mutter, seiner Frau und dem Sohn nach Europa. „Zuerst in die Türkei, dann weiter nach Belgien und schließlich nach Mülheim.“ Mittlerweile ist er gut in Deutschland angekommen, spricht prima deutsch, arbeitet ehrenamtlich in einer Fahrradwerkstatt und machte eine Weiterbildung zum Schlosser, seinem Beruf, den er in Afghanistan gelernt hat.
Geflüchteter: „Mit den Gedanken bin ich immer zuhause“
Er hat es raus geschafft. Doch viele seiner Freunde und Verwandten leben noch in seiner Heimatstadt, etwa 150 Kilometer südlich von Kabul gelegen. „Viele von ihnen sind jetzt in Gefahr“, weiß Aahdi. Noch gebe es Internet- und Telefonverbindung, über die er Kontakt mit den Cousins halten könne – wer weiß, wie lange noch. „Alle Läden, Banken, Schulen haben geschlossen. Die Leute haben Angst und verlassen die Häuser nicht mehr – vor allem die Frauen.“ Seine Freunde erzählen, dass die Taliban Menschen, die etwa in der Armee gedient oder bei der Polizei gearbeitet haben, suchen und mitnehmen. „Die Menschen verschwinden einfach. Keiner weiß, was mit ihnen passiert.“
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Seit Wochen könne sich der 32-Jährige nicht mehr konzentrieren, „mit den Gedanken bin ich immer zuhause“. Richtig schwer sei es, die Bilder zu sehen, die Videos von Hinrichtungen und Verstümmelungen, die über die sozialen Medien geteilt werden. „Es bricht mir das Herz. Ich frage mich, was ich tun kann, wie ich helfen kann. Doch es gibt keine Möglichkeit.“ Fluchtwege über die Grenzen des Landes seien von den Taliban versperrt, „sie schlagen und schießen, töten ohne Grund Menschen“.
„Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es der, dass die Taliban mein Land verlassen.“ Die Hoffnung, irgendwann in seinem Leben noch einmal seine Heimat wiederzusehen, seine Cousins und Cousinen in die Arme zu schließen, die stirbt nie.
Sorge, dass die Taliban die drei Schwestern mitnehmen
Auch Ali M. (Name geändert) ist sehr besorgt um seine Familie in seinem Heimatdorf nahe der pakistanischen Grenze. Der 28-Jährige kam mit neun Jahren mit einer schweren Minenverletzung nach Deutschland für eine medizinische Behandlung. „Ich wuchs dann bei einer Pflegefamilie auf.“ Er besuchte hier die Schule, machte eine Ausbildung und legte ein duales Studium ab, heute arbeitet der Mülheimer in einer Werbeagentur. Ehrenamtlich betreut er zudem jugendliche Geflüchtete.
Geflüchtete: Verwaltung soll Aufnahme prüfen
In einem Dringlichkeitsantrag in der kommenden Ratssitzung fordern die Fraktionen der Grünen und die CDU die Verwaltung auf, die Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan zu prüfen. Nahezu alle politischen Parteien auf Bundesebene und viele Ruhrgebietskommunen signalisieren die Aufnahmebereitschaft afghanischer Geflüchteter, Ortskräften deutscher Truppen und Menschenrechtsorganisationen. NRW solle nach dem Verteilungsschlüssel 1800 Menschen aufnehmen, erklären Franziska Krumwiede-Steiner, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, und Christina Küsters, Fraktionsvorsitzende der CDU.
Da Mülheim als Stärkungspaktkommune ein sehr enges finanzielles Korsett hat, bitten die Fraktionen die Verwaltung um die Beantwortung folgender Fragen: Wie hoch ist die Auslastungsquote aktueller Flüchtlingsunterbringungen? An welchen Orten haben wir Platz für Menschen aus Afghanistan? Wie ist das weitere Vorgehen des Landes? Wie werden die Zuweisungen sein? Können wir Menschen aufnehmen, ohne den städtischen Haushalt über die Maßen zu strapazieren? „Wenn diese Fragen geklärt sind, fordern wir die sofortige Hilfe für die Menschen aus Afghanistan.“
„Ich telefoniere regelmäßig mit meinen Eltern, Schwestern, Brüdern und mit vielen Freunden aus der Heimat.“ Dies gestalte sich jedoch immer schwieriger, da die Internetverbindung nicht mehr richtig funktioniere. „Meine Familie hat noch zwei weitere Familien bei sich aufgenommen, die aus ihren Dörfern flüchten mussten.“ Sie alle sitzen nun zuhause und trauen sich nicht mehr raus. „Vor allem um meine drei Schwestern mache ich mir Sorgen. Sie sind alle über zwölf Jahre alt, unverheiratet, und könnten jederzeit von den Taliban abgeholt und zwangsverheiratet werden.“ Einer seiner Brüder sei Lehrer, einige seiner Freunde haben bei der Polizei gearbeitet – sie sind nun ebenfalls in Lebensgefahr.
In den nächsten Monaten erwartet Ali die Hungersnot
Doch von Deutschland aus kann Ali seiner Familie nicht helfen. „Das macht mich traurig.“ Und wütend zugleich: „Alles, was die westlichen Streitkräfte zuvor gesagt haben, waren Lügen. Sie haben die Menschen betrogen, ihnen Hoffnungen gemacht und am Ende im Stich gelassen.“ Die Luftbrücken für Ortskräfte könnten ausgeweitet werden, auf gefährdete Gruppen: afghanische Frauen, Mädchen, Lehrer, Journalisten. „Doch wie soll man die Leute jetzt noch da rausbekommen?“
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Vor allem für die junge Generation tue es Ali leid, „sie haben sich an Bildung, die Freiheit und demokratische Werte gewöhnt – für sie ist es ein Rückschritt ins Mittelalter.“ In den nächsten Monaten befürchtet er eine Hungersnot. „Die Menschen haben alle keine Arbeit mehr und kein Einkommen.“ Ein Entkommen? Unmöglich. „Unser Haus liegt an der Straße, die direkt nach Pakistan führt. Da ist keiner mehr vorbeigekommen, die Taliban haben alles abgeriegelt.“
Bei all dem Grauen, gebe es aber auch etwas Gutes, sagt Ali. „Dass die Menschen zusammenstehen.“ Einige wenige Mutige leisten sogar Widerstand, etwa im Pandschir-Tal, in dem sich Kämpfer für den Widerstand gegen die Islamisten sammeln. „Auch manche Zivilisten aus meinem Dorf wollen sich zur Not selbst verteidigen.“
„Entwicklung war absehbar – das macht umso wütender“
Als „erschütternd“ beschreibt Sahar Aslamyar die Lage in der Heimat ihrer Eltern. „Unser Herz blutet.“ Zumal die Entwicklung „absehbar war – das macht wütend“. Die 34-Jährige ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, arbeitet seit zehn Jahren in der Mülheimer Stadtverwaltung. Die Eltern und die meisten ihrer Verwandten flohen bereits im ersten Krieg in den Achtzigerjahren nach Deutschland. „Mein Vater hat damals eine deutsche Schule besucht und auch Medizin in Deutschland studiert, daher war immer der Bezug zu Deutschland da.“ Regelmäßig sei er in Kontakt mit verbliebenen Freunden und Verwandten in der Heimat, auch er sei tieftraurig über die Entwicklungen.
„Ich weiß aus Erzählungen meiner Eltern, der Großmutter, der Tanten und Onkel, wie offen und liberal es damals vor dem Krieg in Kabul gewesen sein muss.“ Auf alten schwarz-weiß Aufnahmen sind die Tanten in kurzen, ärmellosen Kleidern zu sehen, mit hübsch frisierten Haaren. „Umso trauriger stimmt mich diese Rückentwicklung – besonders für die armen Mädchen und Frauen.“ Es scheine, als wäre alles umsonst gewesen, jeder Gestorbene für nichts gefallen. „Auch wenn ich persönlich weit weg davon bin, macht mich das sehr betroffen“, sagt Sahar Aslamyar.