Mülheim. Eine Führung im Rahmen der Mülheimer „Iudaica“-Veranstaltungsreihe stellte den Jüdischen Friedhof an der Gracht vor. Was es zu entdecken gibt.

Seit 1700 Jahren lässt sich jüdisches Leben in Deutschland urkundlich nachweisen. Deshalb hat das Stadtarchiv eine Vortragsreihe zur Jüdischen Geschichte Mülheims aufgelegt. Jetzt berichtete die Judaistin Nathanja Hüttenmeister über den jüdischen Friedhof an der Gracht.

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Ihre Friedhofsführung, dem sich ihr Vortrag im Haus der Stadtgeschichte anschloss, zeichnete Spuren jüdischen Lebens nach. Ihren Rundgang an der Gracht begann sie mit 30 Teilnehmern in der Trauerhalle. „Diese Trauerhalle wurde 1920 von den Brüdern Karl und Gustav Kaufmann im Andenken an ihrer 1919 und 1920 verstorbenen Frauen gestiftet“, berichtet Hüttenmeister und weist darauf hin: „Früher dienten die Trauerhallen auch als Reinigungshäuser, in denen die Beerdigungsbruderschaften und -schwesternschaften der jüdischen Gemeinden die rituelle Reinigung der Verstorbenen vornahmen.“

Friedhof an der Gracht ist mindestens 25 Jahre älter, als bisher angenommen

Die heutige Trauerhalle an der Gracht wurde aber nur als Abschieds,- Trauer,- und Gottesdienstraum genutzt. Ganz in der Nähe findet man das repräsentative Familiengrab der Kaufmanns. „Die jüdischen Familien mussten ab Mitte des 19. Jahrhunderts deutsche Familiennamen annehmen. Dabei orientierten sie sich an ihren Berufen oder an den Vornamen ihrer Väter“, erklärt Hüttenmeister. Anhand des Grabsteins der Tochter Hizle des Simon Mülheim und seiner Frau Jehoschua, die am 4. Juli 1725 verstorben und begraben worden ist, zeigt Hüttenmeister, dass der Friedhof an der Gracht mindestens 25 Jahre älter ist, als bisher angenommen.

Urkundlich erstmals erwähnt wurden jüdische Bürger in Mülheim 1620. Damals bekamen sie ein Schutz- und Niederlassungsrecht, für das sie eine Sondersteuer zahlen mussten. „Mit dem Schutzbrief war auch das Recht auf einen jüdischen Friedhof verbunden“, erklärt Hüttenmeister.

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Friedhof wurde auf unvorteilhaftem Sumpfgelände am Hang angelegt

Meistens habe man den jüdischen Gemeinden nur unattraktive Grundstücke in Randlagen zugebilligt. So sei zu erklären, dass der jüdische Friedhof an der Gracht auf unvorteilhaftem Sumpfgelände am Hang angelegt worden sei.

Die Friedhofsforscherin zeigte anhand der Friedhofsabschnitte die Geschichte der jüdischen Gemeinde Mülheims. Bis 1800 waren die Inschriften jüdischer Grabsteine ausschließlich Hebräisch. Danach setzten sich deutsche Grabinschriften durch. Familienmitglieder oder Mitglieder eines Berufsstandes wurden oft in einer Reihe beigesetzt. Erst später ging man zur chronologischen Beisetzung über. Kleine Grabsteine zeigen, dass hier Kinder beerdigt worden sind.

Während des Nationalsozialismus wurden viele Grabsteine umgeworfen oder zerstört

Lücken im alten Gräberfeld des Friedhofes berichten davon, dass während des Nationalsozialismus viele Grabsteine umgeworfen oder zerstört wurden. Auch der Grabstein des 1902 verstorbenen jüdischen Bankiers Gustav Hanau, der sein Bankhaus im heutigen Schulamt an der Bahnstraße hatte, zeigt die Spuren der Schändung. Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Metallbuchstaben, die seinen Namen und den seiner 1914 gestorbenen Frau Nanny zeigten, entfernt und als Altmetall für die Rüstung eingeschmolzen. Das geschah auch mit Grabgittern. An Gustav Hanaus Grabstein kann man aber noch die Umrisse seines Namens erkennen.

Bei der Erweiterung des Friedhofs in den 1980er Jahren entdeckte man im überwachsenen Dickicht des rückwärtigen Geländes teils alte Grabsteine, die beschädigt und oft nicht mehr lesbar waren. Sie führen die Zerstörungswut des nationalsozialistischen Judenhasses vor Augen. Die traurige Geschichte des Holocaust, in dem 270 jüdische Mülheimer ermordet wurden, erzählen auch die Doppelgrabsteine, die nur zur Hälfte beschriftet sind. Sie zeigen: Die nicht mehr verzeichneten Familienangehörigen wurden Opfer der Shoa. Hüttenmeister weist darauf hin, dass an einigen Grabsteinen nachträglich Gedenktafeln und Inschriften für die Opfer der Shoa angebracht worden sind.

Nathanja Hüttenmeister begann ihren Rundgang, an dem rund 30 Menschen teilnahmen, in der Trauerhalle des Jüdischen Friedhofes.
Nathanja Hüttenmeister begann ihren Rundgang, an dem rund 30 Menschen teilnahmen, in der Trauerhalle des Jüdischen Friedhofes. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Auch ein Mahnmal von Bildhauer Ernst Rasche erinnert an die örtlichen Holocaustopfer

Auch ein vom Mülheimer Bildhauer Ernst Rasche geschaffenes Mahnmal erinnert auf dem Jüdischen Friedhof in Deutsch und Hebräisch an die örtlichen Holocaustopfer. Zu den geschändeten, aber noch entzifferbaren Grabsteinen, die an der hinteren Friedhofsmauer stehen, gehört auch der von Gustav Hanaus 1864 verstorbenen Mutter, Esther Hanau, geborene Gombel.

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Kleine Davidsterne und mehrarmige Leuchter sind die klassischen Symbole der jüdischen Grabsteine. Sie erinnern an den König David und den zerstörten Tempel in Jerusalem. Die neuen Gräber im hinteren Friedhofsteil zeigen, dass das Leben der heute rund 2500 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde, zu der seit den 1990er Jahren nicht nur Mülheim, sondern auch Oberhausen und Duisburg gehören, weitergeht. Hier sind auch viele Gemeindemitglieder beigesetzt, die nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Mülheim gekommen sind. Hinter einer kleinen Zwischenmauer, die das jüngste Grabfeld abschließt, haben auch nichtjüdische Lebenspartner jüdischer Gemeindemitglieder ihre letzte Ruhe gefunden.

Erdgräber mit Ewigkeitsanspruch: Friedhof an der Gracht stößt an seine Grenzen

Datenbank für jüdische Gräber mitaufgebaut

Nathanja Hüttenmeister (Jahrgang 1967) hat in Tübingen, Berlin und Jerusalem Judaistik, Arabistik und Geschichte studiert.

Seit 1996 arbeitet sie am Steinheim-Institut der Universität Duisburg-Essen und hat durch ihre bundesweite Forschungsarbeit eine Datenbank jüdischer Gräber mitaufgebaut.

2014 hat sie auch den Jüdischen Friedhof an der Gracht dokumentiert.

Hüttenmeister betont: „Auch wenn es heute auf einigen jüdischen Friedhöfen Urnengräber gibt, sieht die jüdische Tradition nur Erdgräber mit Ewigkeitsanspruch vor.“ Damit stößt der jüdische Friedhof an der Gracht an seine Grenzen. Deshalb hat die Jüdische Gemeinde 2018 auf dem Duisburger Waldfriedhof ein Grundstück gekauft, das nun als zusätzlicher Friedhof dient.

Bemerkenswert: In der jüdischen Grabkultur erhalten Ledige, die dem biblischen Auftrag „Seid fruchtbar und mehret euch!“ nicht nachgekommen sind, keinen Grabstein, sondern nur ein Grabmal aus Holz.