Mülheim. Zu den letzten Auschwitz-Überlebenden gehört Zilli Schmidt (96), die bis heute um ihr ermordetes Kind trauert. Sie hat auch in Mülheim gewohnt.

Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar ist nicht nur den Millionen ermordeter Juden gewidmet. Auch zahllose Sinti und Roma wurden in der NS-Zeit grausam getötet, darunter ein Großteil der Familie von Zilli Schmidt. Einen Lebensabschnitt hat die heute 96-Jährige in Mülheim verbracht, doch dies wurde bislang kaum wahrgenommen.

Nun wollen zwei junge Frauen das Schicksal dieser Sinti-Frau (Sinteza) beleuchten, stellvertretend für andere NS-Opfer. Agnes Krumwiede und ihre Schwester Franziska Krumwiede-Steiner, die mittlerweile in Mülheim lebt und für die Grünen im Stadtrat sitzt, haben sich auf die Spuren von Holocaust-Opfern in ihrer Heimatstadt Ingolstadt begeben und sind dabei auf Zilli Schmidt gestoßen. Eine Zeitzeugin, die erst im hohen Alter mit ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit getreten ist. Sie hat zeitweise in Mülheim gelebt.

Glückliche Kindheit in einer Sinti-Großfamilie

Geboren wurde sie unter ihrem Mädchennamen Cäcilie Reichmann am 10. Juli 1924 in Thüringen - in eine Großfamilie hinein, die nach ihrer Erinnerung glücklich war und noch traditionell in Wohnwagen unterwegs.

In der warmen Jahreszeit tourten die Reichmanns mit einem Wanderkino durchs Land, im Herbst suchten sie sich ein Winterquartier. Die Mutter hatte als Hausiererin ein eigenes kleines Gewerbe, bot in den Häusern hochwertige Spitzen an.

Vater glaubte lange: "Hitler bringt nur die Verbrecher weg"

Um 1939, nach der Machtergreifung der Nazis, kippte die Stimmung. Den Sinti schlug Abneigung entgegen. "Keiner wollte uns mehr haben", heißt es in Zillis Lebenserinnerungen. Der Vater wollte lange nicht an das Schlimmste glauben, er meinte: "Der Hitler bringt doch nur die Verbrecher weg." Dennoch unternahm die Familie einen weite Reise in Richtung Osten, um sich sicherer zu fühlen. Sie zog nach Eder in Tschechien.

Schon als Teenager wurde Zilli Mutter. Ihre kleine Tochter Ursula - genannt Gretel - kam 1940 in Eder zur Welt. Die Großeltern nahmen das Enkelkind mit offenen Armen auf. Mit dem Vater ihrer Tochter wollte Zilli nicht zusammenleben. Familie Reichmann flüchtete schließlich nach Frankreich, mietete eine Wohnung in Metz.

Zillis Verhaftung kurz darauf wirkte wie ein böser Zufall. Sie besuchte zwei Cousinen in Straßburg, die dort von einer gutherzigen französischen Familie versteckt wurden. Sie sollte die Mädchen nach Metz holen. Beim Fahrkartenkauf auf dem Straßburger Bahnhof werden die drei jungen Frauen von der Gestapo festgenommen. Zilli geht freiwillig mit, um ihre Cousinen nicht alleine zu lassen.

Furchtbare Odyssee durch Gefängnisse und Lager

Es folgt eine furchtbare Odyssee von Gefängnis- und Lageraufenthalten, ehe Zilli - als erste ihrer Familie - im KZ Auschwitz-Birkenau landet, im sogenannten "Zigeunerlager". Später folgen ihre Eltern mit der zweijährigen Gretel und Zillis Schwester Guki mit sechs Kindern. Das siebte Kind, das im Krankenhaus gelegen hatte, sei der Mutter in einem Karton ins KZ nachgeschickt worden und starb kurz nach der Ankunft, erinnert sich die Zeitzeugin.

Etwa anderthalb Jahre lang versucht Zilli, ihre Familie in Auschwitz vor dem Verhungern zu bewahren, indem sie aus der Lagerküche Lebensmittel stiehlt. Einmal wird sie erwischt und gefoltert: drei Tage Stehzelle, alleine im Dunklen, ohne Wasser und Essen, ohne Toilette. Sie überlebt auch das. Im Elend geht sie eine Beziehung mit einem Lagerältesten ein, von der die ganze Familie Reichmann profitiert: Hungern müssen sie fortan nicht mehr, aber es rettet sie letztendlich nicht.

KZ-Arzt Mengele zerfetzt ihr mit einer Ohrfeige das Trommelfell

Am 2. August 1944 wird das "Zigeunerlager" aufgelöst, Zilli von ihrer Familie getrennt. Als einzige, die noch "arbeitsfähig" ist, soll sie in ein anderes Lager gebracht werden.

Vom Zug aus wirft sie einen letzten Blick auf ihre Eltern, ihre Schwester mit den sechs Kindern, ihr Töchterchen an Großvaters Hand. Sie will zu ihnen laufen. Lagerarzt Josef Mengele habe ihr in diesem Moment mit einer brutalen Ohrfeige das Trommelfell zerfetzt, sie zurück zum Waggon gestoßen.

Zusammenbruch nach dem Tod der Tochter

Zilli wird nach Ravensbrück deportiert. Wer im "Zigeunerlager" geblieben war, rund 4200 Frauen, Kinder, ältere Leute, wurde in die Gaskammer getrieben. Als die Sinteza in Ravensbrück erfährt, dass alle ermordet wurden, bricht sie zusammen, schreit und klagt: "Herr Jesus! Gib mir nie wieder Kinder!" Sie bekommt tatsächlich keine Kinder mehr. Ihre einzige Tochter wurde nur vier Jahre und drei Monate alt. Die Hälfte ihres Lebens verbrachte sie in Lagern und Gefängnissen. Mit so etwas könne niemand fertig werden, ist die Überzeugung von Zilli Schmidt. "Dass ich überhaupt noch normal im Kopf bin, das wundert mich. Ich kann sie nicht vergessen. Gretel."

Von Ravensbrück aus wird sie in ein Arbeitslager geschickt, die Arado-Werke in Wittenberg an der Elbe. Offenbar am Rande des Hungertodes wagt sie mit einer Freundin die Flucht, schlägt sich durch nach Berlin, anschließend nach Österreich.

Späterer Ehemann war selber ehemaliger KZ-Häftling

Teile ihrer Familie, etwa zwei ihrer Brüder, hat sie nach dem Krieg wiedergefunden. Sie wurde aber immer wieder von schweren Depressionen gequält und hat offenbar Jahrzehnte lang nicht über ihre Zeit in Auschwitz gesprochen. Auch nicht mit ihrem späteren Ehemann Toni, der selber KZ-Häftling war.

Ende der 80er Jahre sagte Zilli Schmidt in einem Mordprozess gegen den früheren SS-Wachmann August König als Zeugin aus. Im "Zigeunerlager" hatte sie miterleben müssen, wie König bei einer schönen jungen Frau abblitzte und sie bestrafte: Als er sie mit einem anderen Mann sah, schoss er ihr durch die Barackenwand direkt in den Kopf. "Sie war nicht gleich tot. Ich lag neben ihr im Krankenlager. Dort ist sie dann gestorben", erinnert sich Zilli Schmidt. Der frühere SS-Mann wird wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt und tötet sich selber.

Erst als 95-Jährige hat Zilli Reichmann ihre Erinnerungen geteilt, in mehreren lebensgeschichtlichen Interviews mit Vertretern der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und als Ehrengast bei Gedenkveranstaltungen. Auf ihrem linken Unterarm erkennt man bis heute die Häftlingsnummer Z-1959, eintätowiert.

In Beziehungskrisen zum großen Bruder nach Mülheim geflüchtet

In Mülheim ist Zilli offenbar schon in den 60er Jahren mehrmals gewesen. Wieder als Geflüchtete, aber aus privaten Gründen. Ihr älterer Bruder Stefan, genannt Stifto, lebte hier als wohlhabender Mann. Er handelte mit Geigen, besaß mehrere Häuser in Mülheim. Zilli Schmidt wohnte zu der Zeit in Mannheim mit ihrem Ehemann Toni, einem erfolgreichen Musiker, der ihre große Liebe wurde, obwohl er sich mit anderen Frauen einließ. Gekränkt und verletzt schlüpfte sie bei Stifto und seiner Frau unter, kehrte aber immer zu Toni zurück.

Laut ihren Erinnerungen kam ihr Gatte einmal auch selber nach Mülheim, um sie zu holen. Er wurde von seinem Schwager mit einer krachenden Ohrfeige empfangen, habe sich aber nicht gewehrt.

Als Witwe "lieber bei der Familie sein" - Umzug ins Ruhrgebiet

Tonis Tod im Jahr 1989 riss eine große Lücke in Zilli Schmidts Leben und ließ sie in Einsamkeit zurück. Vier oder fünf Jahre später zog sie selber nach Mülheim, wollte "lieber bei der Familie sein, die ich noch hatte". Denn auch ihr jüngerer Bruder Hesso lebte an der Ruhr, mit fünf Töchtern und einem Sohn. Nach seinem Tod 2011 kehrte sie nach Mannheim zurück, wo sie bis heute lebt. Auf dem Mülheimer Altstadtfriedhof befindet sich eine Familiengruft der Reichmanns.

Die Mülheimer Jahre erscheinen in Zilli Schmidts gewaltiger Lebensgeschichte nur als unscheinbares Kapitel. Sie habe hier Freunde gefunden, in einer freien christlichen Gemeinde, und auch Hessos Familie den Glauben nahe gebracht.

Zeitzeugin (96) lebt Mannheim

Mittlerweile ist die Zeitzeugin, die auch eine Krebserkrankung überstanden hat, 96 Jahre alt. Man stehe immer noch in engem Kontakt zu ihr, sagt eine Sprecherin der Stiftung Denkmal auf Anfrage dieser Redaktion, "es geht ihr gut." Aus dem Mund von Zilli Reichmann stammt dieser Satz, gesprochen auf einer Gedenkveranstaltung: "Solange ich lebe, kämpfe ich. Für unsere Menschen."

+++ GEDENKTAG AM 27. JANUAR +++

Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Seit 2006 wird an diesem Datum jährlich der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust begangen.

Eine zentrale Gedenkveranstaltung am 27. Januar um 13 Uhr ist den Sinti und Roma gewidmet, die in der NS-Zeit ermordet wurden. Wegen der Corona-Pandemie kann sie nur virtuell stattfinden.

Sie wird live im Internet übertragen (www.roma-sinti-holocaust-memorial-day.eu), auch auf Facebook (www.facebook.com/sintiundroma).

Die äußerst bewegende Lebensgeschichte von Zilli Schmidt ist auch als Buch erschienen: "Gott hat mit mir etwas vorgehabt. Erinnerungen einer deutschen Sinteza". Auf der Homepage der Stiftung Denkmal gibt es die Veröffentlichung als kostenlosen Download.

Am 16. Dezember 2020 hatte ein künstlerischer Animationsfilm über Zillis Leben Premiere: "Die bringen nur die Verbrecher weg". Auch dieses Werk kann man auf der Website der Stiftung Denkmal betrachten.