Mülheim. Fast die Hälfte der Mülheimer Kinder ist armutsgefährdet, das Leben in der Stadt unfair. Ein neuer Bericht müsste eigentlich aufrütteln.

Wenn in jüngster Zeit über Kinderarmut in Mülheim gesprochen wurde, tauchte meist irgendwo diese Zahl auf: 27,6 Prozent. So viele Minderjährige leben in Familien mit Sozialleistungsbezug. Die Quote wurde im vergangenen Sommer von der Bertelsmann-Stiftung öffentlich gemacht und hat viele aufgerüttelt. Nun gibt es einen Bericht von Fachleuten aus dem Mülheimer Sozialamt, der klar macht: Armut betrifft noch viel mehr Kinder hier in der Stadt. Fast jedes zweite. Und prägt ihr Leben auf vielfältige Weise.

Fast jedes zweite Mülheimer Kind von Armut bedroht - „eine erschreckende Zahl“

Im „Bericht zur Einkommens- und Lebenssituation armutsgefährdeter und -betroffener Familien“ geht es nicht nur um Kids, die von Sozialleistungen leben. Obwohl schon deren Zahl erheblich ist: Wenn man Leistungen nach SGB II, Hilfe für Asylbewerber und Wohngeld zusammenrechnet, betrifft dies mehr als 9000 Mädchen und Jungen, fast genau ein Drittel der Mülheimer Kinder.

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Hinzu kommen 5000 Kinder, die als „armutsgefährdet“ gelten, weil das Pro-Kopf-Einkommen in ihrer Familie so niedrig ist. Hier legen die Fachleute 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zugrunde, in Mülheim ergibt das 13.600 Euro pro Person. Insgesamt muss man also von 13.000 Kindern und Jugendlichen ausgehen, die in schwierigen finanziellen Verhältnissen leben. Rund 45 Prozent, fast die Hälfte. „Eine erschreckende Zahl“, hieß es auch im Sozialausschuss, wo der Bericht jetzt vorgestellt wurde.

Er war eine Auftragsarbeit, nachdrücklich gefordert. Der Mülheimer Stadtrat hat im Oktober 2019 beschlossen, ein Handlungskonzept gegen die Kinderarmut zu erstellen. Die Verwaltung wurde beauftragt, einen detaillierten Bericht zu veröffentlichen und jährlich zu aktualisieren, in dem auch die einzelnen Stadtteile genau betrachtet werden.

60 Prozent der Alleinerziehenden leben von Sozialhilfe

Der nun vorliegende Bericht enthält auch Bekanntes, bildet es drastisch ab. Etwa die Nöte vieler Alleinerziehender: 60 Prozent von ihnen beziehen Sozialleistungen, aber weniger als 18 Prozent der Paare mit Kindern. Betrachtet man das Mülheimer Stadtgebiet, die Verdichtung von Haushalten, die armutsgefährdet sind, so erscheinen Bereiche der Altstadt und Eppinghofens, von Styrum und Dümpten als signalrote Flecken. Von der Innenstadt entlang der Bahntrasse in Richtung Heißen und entlang der Ruhr in Richtung Styrum liegen die Anteile oft bei über 50, teilweise bei über 70 Prozent, berichten die Fachleute aus dem Sozialamt. Genau dort leben viele kinderreiche Familien.

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Dass Kinder in diesen Bezirken weitaus weniger Grün- und Freiflächen zur Verfügung haben, in denen sie durchatmen können, weiß jeder, der die Stadt kennt. Der Bericht zur Kinderarmut arbeitet außerdem die Straßenlärmbelästigung heraus, der sie in ihrem Wohnumfeld ausgesetzt sind. Täglicher Stress, der sich in den nördlichen Stadtteilen konzentriert.

Große Ungleichheiten beim Straßenlärm, Übergewicht, Medienkonsum

Auch aus anderen Gründen ist die Gesundheit ärmerer Kinder gefährdet. Die Mülheimer Schuleingangsuntersuchungen bilden dies deutlich ab. In Haushalten, die Sozialleistungen beziehen, hat jedes siebte Vorschulkind Übergewicht (ca. 14 Prozent). Mit steigendem Einkommen sinkt dieser Anteil wie in Treppenstufen und liegt beim Nachwuchs aus wohlhabenden Familien nur noch bei vier Prozent.

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Passend dazu die Mitgliedschaft in Sportvereinen: Rund 90 Prozent der Gutverdiener-Kinder sind dabei, aber nur etwa 35 Prozent der Kinder, für die das Sozialamt zahlt. Und schaut man auf den Medienkonsum der Vorschulkinder aus armen Familien, dann hängt ein Viertel dieser Fünfjährigen täglich mehr als zwei Stunden am Handy, vor dem Fernseher etc.

Doch was nützt es diesen Kindern, die Fakten einmal mehr geballt zusammenzutragen? „Wir müssen erst einmal die Grundlagen schaffen“, sagt Sozialamtsleiter Thomas Konietzka. Und dann versuchen, die Lebensbedingungen der betroffenen Kinder zu verbessern. „Klar, es gibt materielle Armut, und das sind herbe Zahlen.“ Doch auf kommunaler Ebene sieht er wenig Möglichkeiten, daran etwas zu ändern. Die Regelsätze werden anderswo festgelegt.

Noch eine Arbeitsgruppe...

Der Stadtrat hat im September 2020 beschlossen, ein Bündnis gegen die Kinderarmut in Mülheim zu gründen.

Mitwirken sollen unter anderem Vertreter von Jugend-, Schul-, Sozial- und Gesundheitsamt, des Jobcenters, der Wohlfahrtsverbände sowie auch Kinder und Jugendliche selbst.

Noch hat sich dieses Bündnis nicht gefunden. Es gab auch von Anfang an Kritik und die Frage, ob Mülheim tatsächlich eine weitere Arbeitsgruppe braucht.

„Wie schaffen wir es, dass diese Kinder trotzdem zufrieden aufwachsen?“

Die Frage, so Konietzka, müsse lauten: „Wie schaffen wird es, dass diese Kinder trotzdem subjektiv zufrieden und glücklich aufwachsen? Dass sie Platz haben, Sportmöglichkeiten, Radwege, dass die Schulen gut ausgestattet sind... Da können wir etwas tun.“

„Wie geht es jetzt konkret weiter?“, fragte Grünen-Vertreterin Ingrid Tews im Sozialausschuss. Die Frage dürfte Ende Juni auch im Jugendhilfeausschuss aufkommen, wo der Bericht erneut auf die Tagesordnung kommen soll. Eine ehrliche Antwort wäre: Genau weiß es noch keiner.

Diese Karte macht das Einkommensgefälle in Mülheim deutlich. In den „armen“ Stadtteilen leben besonders viele kinderreiche Familien.
Diese Karte macht das Einkommensgefälle in Mülheim deutlich. In den „armen“ Stadtteilen leben besonders viele kinderreiche Familien. © Funkegrafik | Pascal Behning