Mülheim. Ein gemeinsamer Antrag von Grünen, SPD und CDU macht der Verwaltung Druck. Sie kritisieren die bisherigen sozialen Maßnahmen scharf.

Grüne, CDU und SPD fordern ein Handlungskonzept gegen die Folgen der Kinderarmut. Schon bis zum kommenden Haushaltsbeschluss im November soll die Verwaltung nicht nur umfassend die Zahlen der Mülheimer Kinder und Jugendlichen mit einem Armutsrisiko darlegen, sondern im Optimalfall auch ein Handlungskonzept entwickeln. Die Landmarke Haushalt ist nicht unwichtig, denn mögliche Maßnahmen gegen Kinderarmut erfordern Geld aus der klammen Stadtkasse.

Fast jedes dritte Kind betroffen

Ein Handeln ist nötiger denn je: Die Kinderarmut hat in der Ruhrstadt allein in den vergangenen zehn Jahren um gut 50 Prozent zugenommen. Mehr als in jeder anderen Großstadt in NRW und auch fast bundesweit. Fast jedes dritte Kind in Mülheim ist von Armut betroffen, Etwa 3.179 Kinder zwischen 0 und 5 Jahren erhielten 2018 Transferleistungen nach SGBII. Besonders Alleinerziehende – 2018: 1.974 Menschen, zu mehr als 90 Prozent Frauen – sind auf Unterstützungsleistungen angewiesen, weil sie in einer unheilvollen Verkettung aus fehlender Kinderbetreuung, Niedriglohn, schlechter Ausbildung und nicht selten sozialer Isolation feststecken. Armut wird somit vererbt.

Die neuerliche Eile der Politik ist geboten und mag dennoch überraschen, denn das Thema und die Erkenntnisse sind nicht neu. Schon 2003 fragte die CDU nach Daten zur Kinderarmut bezogen auf Stadtteile und forderte eine Übersicht über soziale Einrichtungen und Projekten, die das Thema bearbeiten. Die Forderung blieb ohne sichtbare Folgen.

16 Jahre Beschönigung

2018: Kinderarmut in Mülheim lässt sich sogar stadtteilgenau bestimmen.
2018: Kinderarmut in Mülheim lässt sich sogar stadtteilgenau bestimmen. © funkegrafik nrw | Helge Hoffmann

Vier Jahre später erst, 2007, setzte die CDU erneut einen Antrag zur „Bekämpfung von Kinderarmut“ auf die Tagesordnung des Jugendhilfeausschusses. Spielte aber kurioserweise das Thema selbst zur Randnummer runter: „Obwohl wir ein sehr gutes Netzwerk gegen Kinderarmut haben, erscheint es sinnvoll, uns zusätzlich Erfahrung anderer Städte zunutze zu machen“, wird der damalige Fraktionsvorsitzende Wolfgang Michels in einer Niederschrift zitiert.

Immerhin gab es 2007 einen Familienbericht und 2010 eine Vorlage „Daten zur sozialen Lage“, die die Lage der Familien mit dem Sozialbericht verknüpften. Es folgten 2015 eine Bertelsmann-Studie, die der damalige SPD-Sozialdezernent Ulrich Ernst mit den Worten kommentierte, das sei zwar „von großer Aussagekraft“, aber alles „für Mülheim nicht neu“ und man begegne den „Erkenntnissen bereits mit vielfältigen Maßnahmen“.

Zweifel an der Effizienz der Maßnahmen

Schaut man drei Jahre später auf die Zahlen von 2018, muss man an der Effizienz dieser Maßnahmen nicht nur Zweifel hegen, sie klingen wie eine Beschönigung. In der Mülheimer Mitte und im Norden ist der Anteil der Sozialhilfeempfängern und damit die Kinderarmut nahezu zementiert.

Und heute vermisst auch die SPD ein erkennbares Handlungskonzept: „Wir haben viele Projekte, wir brauchen aber eine übergreifende Zusammenarbeit“, bekräftigt SPD-Mann Klaus Konietzka „kein Erkenntnisproblem, sondern ein Handlungsproblem“ bei der Bekämpfung von Kinderarmut. Der Antrag der drei Parteien macht deshalb Druck an der richtigen Stelle, indem er ein Handlungskonzept anstelle von Einzelmaßnahmen fordert.

Verwaltungsressort müssen sich vernetzen

Franziska Krumwiede-Steiner sieht die Problematik fehlender zusammenhängender Strategien schon auf

Zahlen noch vor der Etatberatung

Die Zahlen zur Sozialstruktur und Armutsbetroffenheit der Wohnbevölkerung, Leistungsdaten SGB II und VIII sowie Daten aus dem KECK-Atlas soll die Verwaltung zügig vor der Haushaltsberatung vorlegen. Allerdings: Der politische Antrag kann erst in der Ratssitzung am 10. Oktober beschlossen werden – man hatte die Einreichungsfrist vor den Sommerferien um einen Tag verpasst.

Ein fertiges Handlungskonzept vor dem Haushaltsbeschluss ist damit unwahrscheinlich. CDU-Fraktionschefin Christina Küsters hat zumindest die Hoffnung, dass die Daten vorliegen werden. „Eigentlich hat die Verwaltung sie da“, glaubt auch Krumwiede-Steiner. „Das Handlungskonzept muss die Aufgabe für 2020/21 werden.“

Damit, allerdings, droht die Kinderarmut zum Wahlkampfthema zu werden. Die Grünen hoffen, dass der jetzige interfraktionelle Antrag einen politischen Streit darüber verhindert.

Verwaltungsebene gegeben: Im Jugendhilfeausschuss bespreche man das Integrierte Handlungskonzept für Eppinghofen mit Sprachförderungs- und Ernährungsprojekten, im Sozialausschuss Maßnahmen für alleinerziehender Mütter und anderswo fehlende Kita-Plätze – Grüne, CDU und SPD fordern daher ein ressortübergreifendes Handeln der Kommune, zum Beispiel eine Stelle für kommunale Leistungen aus einer Hand, die von Armut betroffene Familien berät.

Zudem könnten die gut 148 verschiedenen Leistungen für Kinder transparenter gestaltet werden. Konietzka wäre eine Art Kindergrundeinkommen, in der alle zusammengefasst sind, die liebste Lösung, „das ist allerdings Sache des Bundes“.