Mülheim. 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: Nun äußerten sich auch die OB aus Mülheim, Duisburg und Oberhausen zum aufkeimenden Antisemitismus.

Jüdisches Leben gestern, heute und morgen: Darüber diskutierte jetzt Oberbürgermeister Marc Buchholz mit seinen Amtskollegen Daniel Schranz (Oberhausen) und Sören Link (Duisburg) bei einer Online-Veranstaltung, zu der die Jüdische Gemeinde Duisburg Mülheim Oberhausen eingeladen hatte.

Die jüdische Politikwissenschaftlerin und Soziologin Gila Baumöl und die Präsidentin der Jüdischen Studierenden-Union in Deutschland, Anna Staroselski, komplettierten die von Sabena Donath moderierte Runde.

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Engagierte Rede des Münchener Kabarettisten Christian Springer

Vor der Diskussion gab der Münchener Kabarettist Christian Springer in seiner engagierten Rede über 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland den Grundton vor, indem er sagte: „Über die historischen und politischen Ursachen des Antisemitismus sind dicke Bücher geschrieben worden. Aber was man konkret dagegen tun kann, wenn man im Alltag mit Antisemitismus konfrontiert wird, darüber gibt es nur einen schmalen Schnellhefter, wenn da überhaupt etwas drin ist. Dabei muss es heute doch egal sein, ob man katholisch, evangelisch, jüdisch, muslimisch, buddhistisch oder sonst was oder gar nichts ist, um frei und unbehelligt ins unserem Land leben zu können. So steht es in unserem Grundgesetz.“

Dazu, wie der verfassungsrechtliche Anspruch des Grundgesetzes in die soziale Wirklichkeit übersetzt werden kann, sagte Mülheims OB Marc Buchholz: „Wir dürfen in unserem Zusammenleben auch heute und morgen nicht vergessen, dass es im Nationalsozialismus Deutsche waren, die Deutschen Unrecht angetan haben, als sie ihre jüdischen Mitbürger verfolgt, vertrieben und umgebracht haben. Angesichts unserer Geschichte ist es ein Geschenk, dass es heute wieder ein vitales jüdisches Leben in Mülheim und seinen Nachbarstädten gibt. Die jüdische Gemeinde ist mit ihren Veranstaltungen heute ein fester Bestandteil unseres Kulturkalenders. In unserem gesellschaftlichen Leben darf nicht die Religion im Mittelpunkt stehen. Es muss der Mensch im Mittelpunkt stehen.“

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Mülheims OB Buchholz fordert Achtung und Respekt ein

Buchholz hält hier Gotthold Ephraim Lessings „Ringparabel“ als wegweisend. Sie handelt von einem Vater, der seine drei Söhne alle gleich liebt und ihnen deshalb drei absolut gleiche Ringe vererbt, weil er keinen von ihnen benachteiligen will. So wissen seine Söhne nicht, welcher der drei Ringe der Ursprungsring ist. „Diese Parabel zeigt uns, dass wir, egal ob wir Christen, Juden oder Moslems sind, alle einen Vater haben“, so Buchholz. „Wir müssen begreifen, dass uns nur der Frieden in die Zukunft führen kann. Wir wissen aus unserer Vergangenheit, dass Hass, Tod und Vertreibung uns nur zurückwerfen. Unser Zusammenleben kann heute und morgen nur gelingen, wenn wir uns unabhängig von unserer kulturellen und religiösen Herkunft mit Achtung und Respekt begegnen.“

Durch ihr eigenes Vorbild und Handeln müssten Kommunalpolitiker den Menschen Hoffnung geben. Dabei müsse das Ziel sein, „dass sich in der nächsten Generation auch alle Zuwanderer als Deutsche fühlen können“.

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Duisburgs OB Link: Jüdische Gemeinde ist wohltuender Teil unserer Stadtgesellschaft

Buchholz Duisburger Amtskollege, Sören Link, betonte: „Die Jüdische Gemeinde ist heute mit ihren kulturellen Impulsen ein wohltuender Teil unserer regionalen Stadtgesellschaft. Sie schottet sich nicht ab und ihr Gemeindezentrum hat nicht von ungefähr die Form eines aufgeschlagenen Buches.“ Damit komme zum Ausdruck, dass die Jüdische Gemeinde trotz des in der Vergangenheit erfahrenen Leides ein neues Kapitel der Normalität aufschlagen wolle. „Aber es ist eben nicht normal, wenn heute die Polizei vor Synagogen stehen muss“, so Link, der sich eine Gesellschaft wünscht, „in der eben nicht nur jüdische Synagogen, sondern auch jüdische Friedhöfe und jüdische Kindertagesstätten ein ganz normales Angebot darstellen, das keinem Polizeischutz braucht“.

Er wünsche sich für die Zukunft, dass die Menschen im Ruhrgebiet sich am Geist der Kumpel im Bergbau orientieren, so es nicht darauf ankomme, woher jemand kommt, sondern darauf, ob er ein guter Kumpel ist, „auf den man sich verlassen kann und der mit anpackt, um die Arbeit zu erledigen, die wir zu tun haben“. In diesem Sinne sei auch Jugendlichen aus Zuwandererfamilien deutlich zu machen: ‚Wenn du Deutscher sein willst, musst du dich auch mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen. Und wenn es um Antisemitismus gehe, dürfe es keine falschen Rücksichtnahmen geben. Antisemitismus könne man nicht deeskalieren, sondern nur „stoppen – und das mit allen Strafen, die unserem Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Da dürfen wir uns als Politik und als Gesellschaft nicht weggucken.“

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Jüdische Bildungsreferentin: Mehr mit uns statt über uns sprechen!

Oberhausens OB, Daniel Schranz, machte am Beispiel der alten Synagoge im Stadtteil Holten, die in ein Begegnungs- und Erinnerungszentrum umgestaltet werden soll, deutlich „wie man in einer Stadt konkrete Anlaufpunkte für einen Dialog schaffen kann, der Vorurteilen entgegenwirkt und einen Dialog fördert, der die Gesellschaft sozial stabilisiert“.

Für Moderatorin Sabena Donath, die als Bildungsreferentin beim Zentralrat der Juden In Deutschland arbeitet, kommt es darauf an, „dass unser Zusammenleben nicht von den zwei großen Elefanten erdrückt wird, die mit dem Holocaust und dem Nahostkonflikt im Raum stehen“. Sie forderte einen gesellschaftlichen Dialog, „in dem man mit uns Juden und nicht über uns spricht“.

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25 bis 40 Prozent der Deutschen zeigen latenten oder manifesten Antisemitismus

Die Politikwissenschaftlerin Gila Baumöhl und die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion in Deutschland, Anna Staroselski, warnten vor der Vorstellung, „dass wir es in Deutschland nur mit einem durch arabische Zuwanderung importierten Antisemitismus zu tun haben“. Beide wiesen darauf hin, dass sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass zwischen 25 und 40 Prozent der deutschen Bevölkerung einen latenten oder manifesten Antisemitismus hegen.

Beide empfinden es als ungerecht und unangenehm, dass sie als deutsche Staatsbürgerinnen jüdischen Glaubens in privaten Gesprächen und bei Diskussionen regelmäßig die Politik Israels erklären müssen. Anna Staroselski machte ein wachsendes Interesse an der jüdischen Religion deutlich, das viele aus der ehemaligen Sowjetunion zugewanderte Juden herausfordere, sich mit ihrer eigenen jüdischen Identität auseinanderzusetzen.

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Politikwissenschaftlerin wünscht sich mehr Solidarität gegen Antisemitismus

Gila Baumöl lobte die wachsende Sensibilität und Solidarität, die es heute in der deutschen Öffentlichkeit gegenüber antisemitischen Anfeindungen gebe. Anna Staroselski ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass es bei dieser Solidarität noch viel Luft nach oben gebe. Ähnlich wie Christian Springer wies sie darauf hin, dass oft Tausende zu Demonstrationen gegen Israel kämen, aber nur Hunderte zu Demonstrationen gegen Antisemitismus.