Oberhausen. Auch das viel jüngere Oberhausen beteiligt sich an den Jubiläumsfeiern. Das große Abschlusskonzert erinnert an einen verzweifelten 17-Jährigen.

Lang ist’s her – 1700 Jahre. Im Jahr 312 begründete Konstantin der Große mit seinem Sieg „im Zeichen des Kreuzes“ die christliche Staatskirche im römischen Reich. Neun Jahre später, 321, erlaubte eine Konstantinische Urkunde einem jüdischen Römer Sitz und Stimme im Stadtrat von Colonia Agrippina, dem heutigen Köln: Als Stifter grandioser Jubiläen sucht der im heutigen Serbien geborene Feldherr und Cäsar seinesgleichen. Auch Oberhausen begeht mit einer ganzen Reihe von Terminen diesen Jahrestag – anderthalb Jahrtausende vor der eigenen Stadtwerdung.

Mit dem Hashtag „#2021JLID“ für „Jüdisches Leben in Deutschland“ werden bundesweit unter dem Dach eines eigens gegründeten Vereins rund tausend Veranstaltungen ausgerichtet. Darunter Konzerte, Ausstellungen, Musik, ein Podcast, Video-Projekte, Theater und Filme. Erklärtes Ziel des Festjahres ist es, jüdisches Leben sichtbar und erlebbar zu machen „und dem erstarkenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen“. Bescheidener, aber mit bisher immerhin 15 Terminen präsentieren sich die Oberhausener Beiträge zum stolzen Jubiläum.

Das Klezmer-Quartett „Naschuwa“ soll bereits am 25. April in Königshardt für den Auftakt des „#2021JLID“-Festjahres sorgen.
Das Klezmer-Quartett „Naschuwa“ soll bereits am 25. April in Königshardt für den Auftakt des „#2021JLID“-Festjahres sorgen. © Naschuwa | Thomas Damm

Dieses Potpourri mit Konzerten, Vorträgen und Führungen wird erst im Herbst üppiger aufblühen (wenn hoffentlich auch Erfolge der Covid-Impfkampagnen bemerkbar werden). So ist der zunächst für Sonntag, 25. April, angekündigte Auftakt in der Evangelischen Kirche Königshardt inzwischen verschoben auf Sonntag, 5. September: Angekündigt ist „Naschuwa“ – ein Quartett aus zwei Musik-Profis und zwei evangelischen Pfarrern, das sich auf diversen Spielfeldern der jüdischen Musik zu Hause fühlt.

Klezmer in virtuoser und balladesker Fasson

Das aktuelle Programm trägt denselben Titel wie die neue CD – „Schpilt a Frejlachs“, eingespielt im Frühjahr 2020: virtuose und balladeske Klezmerstücke, jiddische Lieder aus der Welt des osteuropäischen Schtetls, aber auch des Ghettos, sowie musikalische Ausflüge in den Orient und das alte und moderne Israel. Jiddischer Humor kommt nicht zu kurz, verspricht „Naschuwa“, ebenso wie einen Hauch von Jazz und Balkanmusik.

Einen Festakt zu „#2021JLID“ feiert die Jüdische Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen am 6. Juni in ihrer Synagoge am Duisburger Springwall. Doch der Sommer bietet in Oberhausen auch Exkursionen zu den sehenswerten Jüdischen Friedhöfen – sowohl auf dem Westfriedhof (am 12. und 19. Juni) als auch in Holten (am 27. August und 12. September): Dort ist jene einstige Landsynagoge der Treffpunkt, die 2019 die Stadt als Baudenkmal erworben hatte.

17 Jahre jung war Herschel Grynszpan, als er am 7. November 1938 auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris schoss. Der Komponist Michael Tippett, ein überzeugter Pazifist, widmete ihm das Oratorium „A Child of our Time“.
17 Jahre jung war Herschel Grynszpan, als er am 7. November 1938 auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris schoss. Der Komponist Michael Tippett, ein überzeugter Pazifist, widmete ihm das Oratorium „A Child of our Time“. © WP

Den eigentlichen Anlass dieser besonderen Reihe – also das Dekret Kaiser Konstantins – beleuchtet am 4. Oktober Dr. Stefan Pätzold, der Leiter des Mülheimer Stadtarchivs, unter der bündigen Schlagzeile: „Juden in den Stadtrat!“ Als prominentester Referent des Jubiläumsjahres kündigt sich für den 31. Oktober Dr. Abraham Lehrer, der Vizevorsitzende des Zentralrats der Juden, an. Der in New York geborene Software-Unternehmer und Vorstand der Kölner Synagogen-Gemeinde spricht dann über Antisemitismus – das finstere Gegenbild zum reichen Kulturleben, das die Aktiven des Festjahres 2021 aufblättern wollen.

Spirituals als Ruf der Unterdrückten

Im Anklang der November-Gedenktage plant das kleine Holten mit seiner besonderen jüdischen Geschichte am 6.11. einen „Abend der Begegnung“ mit kulinarischen und kulturellen Angeboten im Kastell. Und die Herz-Jesu-Kirche am Altmarkt ist am 9. November der Schauplatz eines eigens für diesen Tag komponierten Oratoriums.

Der Maler und der Attentäter vom November 1938

Das Schicksal des jugendlichen Attentäters Herschel Grynszpan traf nicht nur beim Pazifisten und Komponisten Michael Tippett einen Nerv: Auch der Maler Jury Kharchenko mit Atelier im Kunsthaus Haven widmete sich dem seit 1945 Verschollenen mit Gemälden und einer Foto-Installation – entstanden 2017 als Beitrag zum Reformationsjubiläum „Luther und die Avantgarde“.

Der damals 30-jährige Künstler sieht sogar eine persönliche Verwandtschaft: Er zählt Herschel Grynszpan zur Familie. Sein Großvater hatte als Soldat der Roten Armee den sofort als jüdisch erkennbaren Namen Grynszpan abgelegt und den ukrainischen Namen Kharchenko angenommen. Der Maler spricht von „hoher Wahrscheinlichkeit“ einer tatsächlichen Verwandtschaft. „Aber alle Dokumente gingen verloren.“

Der große britische Komponist Michael Tippett (1905 bis 1998) schuf während der ersten Weltkriegsjahre „A Child of our Time“ unter dem Eindruck jenes Attentats, das der 17-jährige Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris verübt hatte: Es war der Vorwand für die Pogromnacht des NS-Regimes von 1938. Tippetts in der englischsprachigen Welt berühmtes Oratorium nutzte – erstmals in einer klassisch geprägten Komposition – für den Ruf der Unterdrückten nach Freiheit die Form der afroamerikanischen Spirituals. Noch 1991 dirigierte der 86-jährige Komponist selbst eine Aufnahme des „Kindes unserer Zeit“ mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra (erhältlich als Naxos-CD).