Mülheim. . Am 9. November 1938 begann die Verfolgung jüdischer Bürger auch in Mülheim. Was bedeutet dieser Tag Jugendlichen? Was jüdischen Menschen?
1938, also genau vor 80 Jahren: Am 9. November brannte auch in Mülheim die Synagoge – Alfred Freter, Leiter der Feuerlöschpolizei, legte den Brand. SA- und SS-Leute überfielen und zertrümmerten Geschäfte und Privatwohnungen jüdischer Mülheimer, misshandelten und erniedrigten diese. Zahlreiche Bürger beobachteten dieses „Schauspiel“. Hat diese schwarze Nacht noch ein Bedeutung in Mülheim? Oder: Liegt der 9. November 1938 einfach zu weit zurück?
Kriegserfahrungen der Oma bewegten Enkelin
Ebubekir Duygeu kam auf die Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine, als er nachsitzen musste. Der Lehrer gab ihm einen Text über die NS-Zeit. „Ich hab’ da gemerkt, dass es wichtig ist, zu früheren Zeiten Wissen zu haben. Sonst wiederholt sich die Geschichte“, sagt der 13-Jährige mit türkischen Wurzeln. Die Realschule Mellinghofer Straße hat seit Jahren eine Stolpersteine-AG. Schüler erarbeiten sich Biografien von Mülheimern, die in der NS-Zeit verfolgt und ermordet wurden. Melina Ott wollte in die AG, als sie von den Kriegserfahrungen ihrer Oma erfuhr. „Meine Oma war damals 8 oder 9. Die Stadt, in der sie lebte, ist komplett abgebrannt“, erläutert Ott. Dankbar sei sie, nicht damals gelebt zu haben. „Ich trauere auch um die Menschen, die im NS-Regime oder im Krieg getötet wurden.“
Alexander Drehmann von der Jüdischen Gemeinde Mülheim ist der 9. November wichtig. „Auch die Gemeindemitglieder beschäftigen sich mit dem Thema“, sagt Drehmann. Die Stadt habe mit dem Gedenken am Synagogenplatz „einen sehr anständigen Umgang gefunden“.
Apotheker Patrick Marx lebt seinen jüdischen Glauben offen. Mit seiner Familie feiert er Feste und pflegt Bräuche. Marx will nicht, dass sein Glaube nur über „die Dingen, die in der deutschen Geschichte passiert sind“, definiert wird. „Ich wünsche mir, dass positive Feste wie Chanukka mehr in der Stadt wahrgenommen werden (Anmerkung: das jüdische Lichterfest).“ Seine Tochter Noa macht im nächsten Jahr ihr Abitur. Die
17-Jährige wird hin und wieder gefragt: „Wie war das damals im Krieg? Was haben deine Großeltern damals gemacht?“ Doch Antisemitismus habe sie selbst nicht erfahren.
Viola Sana ist Schülerin am Gymnasium Heißen. Die 17-Jährige sagt: „Über Juden hört man, ob privat oder auch in Medien, verschiedene Vorurteile“. Wie jüdische Menschen wirklich sind, wollte Sana verstehen. Denn sie kannte keine. Deshalb macht die Schüler-in mit bei der AG „Jüdisches Leben – Mehr als Erinnern!“. Unter Anleitung von Lehrern interviewen Schüler Menschen jüdischen Glaubens. Einige Jugendliche sprachen mit dem Leiter des „Elternheims“ in Düsseldorf – so werden jüdische Altersheime genannt, andere mit dem Sohn eines Mitglieds der jüdischen Gemeinde, auch in Düsseldorf. Denn die Schule hatte dorthin Kontakte. Jana Kahlfuß sagt: „Als ich den jungen Mann, er ist 17 oder 18 Jahre alt, getroffen habe, habe ich Parallelen mit meinem Alltag gesehen.“
Bewacht die eigene Religion leben
Die Neugier der 14-Jährigen war geweckt, als sie von der Verfolgung von Juden in der NS-Zeit erfuhr. „Ich wollte wissen, ob sie weiter angefeindet werden.“ Bei ihren Recherchen haben die Schüler selbst erlebt, dass Sicherheitsleute das „Elternheim“, auch die Synagoge in Düsseldorf bewachen. Jeder, der rein will, muss erst durch eine Sicherheitsschleuse gehen. Viola Sana hat das bewegt.
„Immer wieder haben unsere Gesprächspartner von Anfeindungen berichtet“, sagt die Schülerin. Deshalb auch die Schutzvorkehrungen. Sana hat für sich den Schluss gezogen: „Wie ich mein Kreuz an der Kette trage, so sollte es für jüdische Mitbürger normal sein, den Davidstern zu tragen“, sagt sie. Der 17-Jährigen ist ihr griechisch-orthodoxer Glaube wichtig.
Als die Mülheimer Synagoge in Flammen stand
Die Synagoge – sie stand auf dem Synagogenplatz – ging auch in Mülheim am 9. November 1938 in Flammen auf – wie an vielen Orten in Deutschland. Der Davidstern war bereits abmontiert. „Eine Besonderheit ist hier schon, dass die städtische Feuerwehr den Brand gelegt hat, statt diesen zu löschen“, sagt Stadtarchivdirektor Kai Rawe.
Geschäfte und Privatwohnungen jüdischer Mitbürger wurden demoliert. Niemand sei öffentlich eingeschritten.„Die gesamte Stadtgemeinschaft hat sich an den jüdischen Mitbürgern strafbar gemacht“, sagt Rawe. „Das Ereignis selbst war der Beginn der Vernichtung der Mülheimer Juden.“ Dass es in der Nacht auch einen Toten gab, davon gehen Stadtforscher überwiegend nicht aus. Jedenfalls wurden Mülheimer Juden ab dieser Nacht systematisch verfolgt und ermordet.
Nur ein Gegenstand überlebte den Brand
Den Synagogenbrand überlebte nur das Protokoll der Grundsteinlegung. Dieses war eingemauert. „Viele Jahre wurde die Urkunde in einem Einmachglas aufbewahrt, dann dem Stadtarchiv übergeben.“ Kultusgegenstände gingen wohl nicht in Flammen auf. Denn zum Zeitpunkt der Brandlegung gehörte das Gebäude der Sparkasse.
Sie hatte sich die Not der Gemeinde zunutze gemacht, die Synagoge zum Spottpreis gekauft. Die Sparkasse zahlte später Entschädigungen. Dazu Kai Rawe: „Die Lehre aus den Ereignissen ist, auf politische Entwicklungen zu achten. Sprachliche Verrohung, Ausgrenzung sind erste Schritte zu Gewalt gegen andere.“
>>Fünf Mülheimer Schulen begehen das Gedenken an die Reichspogromnacht auf Einladung des Stadtarchivs.
Schüler haben Biografien recherchiert und sich kreativ der Vergangenheit genähert.
Die Veranstaltung findet im Medienhaus statt. Beginn ist heute um 19.30 Uhr. Eintritt frei.