Mülheim. Fünf Jahre nach Merkels „Wir schaffen das“ sind Zeitzeugen überzeugt: Mülheim wäre im Wiederholungsfalle gewappnet. Aufgaben aber gibt es noch.

Die Flüchtlingskrise, die Deutschland vor fünf Jahren auf die Probe stellte, hatte viele Facetten. Schöne Geschichten und weniger schöne. Bis heute kümmern sich in Mülheim verschiedenste Menschen um Neuankömmlinge. Was sich verändert hat seit Merkels Schwur der Zuversicht, was die Beteiligten gelernt haben und welche Herausforderungen bestehen bleiben – davon berichten fünf Zeitzeugen.

Das sagt der Leiter des Ausländeramtes

Udo Brost, Leiter des städtischen Ausländeramtes.
Udo Brost, Leiter des städtischen Ausländeramtes. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Udo Brost ist einer der Menschen, der von Anfang an mittendrin war. Als Leiter des Ausländeramtes kennt er Sorgen, Nöte und Glücksmomente Geflüchteter, aber auch Ängste und Unsicherheiten vor Ort. Im Rückblick hält er die Reaktion mancher Kritiker für übertrieben: „Hier in Mülheim waren wir nur am Rande betroffen; es war ruhig.“ Kollegen aus Nachbarstädten hätten andere Dinge geschildert. Brost spricht von einem „kleinen Dornröschenschlaf“, in dem sich die Stadt befunden habe, er hält die Flüchtlingswelle von vor fünf Jahren für „nicht so dramatisch“. Und sicher sei sie nicht die letzte ihrer Art gewesen; „das ist wie bei einer Sinuskurve, das geht auf und ab“. Aktuell – „nach dem Crash in Beirut“ – zeichne sich ab, dass sich Menschen aus dem Libanon auf den Weg machen könnten, dazu aus dem Irak und der Türkei.

Damit seine Behörde ihren Aufgaben gerecht werden kann, brauche er gut ausgebildetes Personal. Das fehle manchmal oder werde ihm gezielt weggenommen, kritisiert er. So habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das noch immer Fälle von vor fünf Jahren abarbeite, ihm erst kürzlich zwei Topleute abgeworben. „Das ist ärgerlich. Die sind hier ausgebildet und eingearbeitet worden, und dann kommt die Bundesbehörde und zieht sie raus.“ Dort verdienten sie deutlich mehr.

Aufgestockt werden müsste seiner Ansicht nach dringend die Zahl der Verwaltungsrichter. Die mit Asylverfahren beschäftigten Juristen seien völlig überlastet. Wenn beide Bereiche personell besser dastehen würden, so Brost, könne man „einen Stau“ bei der Bearbeitung künftiger Fälle vermeiden. „Das lässt sich besser machen.“

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Das sagt die Flüchtlingsreferentin

Ideen, wie’s besser geht, hat auch Saskia Trittmann, Flüchtlingsreferentin beim Evangelischen Kirchenkreis an der Ruhr. Es sei durchaus möglich, dass es „an der EU-Außengrenze wieder eskaliert“ und dass dann „wieder alle Einrichtungen gefordert“ seien. 2015 und in der Zeit danach hätten viele Beteiligte über die Belastungsgrenze hinaus gearbeitet. „Es gab Frust und Tränen“, Gelder seien nicht optimal genutzt worden. Die Gesetze hätten sich in teils rasantem Tempo geändert und dementsprechend die Erwartungshaltung der Menschen. „Die Erschöpfung war oft groß.“

Saskia Trittmann, Flüchtlingsreferentin beim Evangelischen Kirchenkreis an der Ruhr.
Saskia Trittmann, Flüchtlingsreferentin beim Evangelischen Kirchenkreis an der Ruhr. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Seit etwa zwei Jahren aber habe man Zeit, Strukturen zu hinterfragen. Es entstehe ein immer realistischeres Bild davon, „was es heißt, wenn so viele Menschen kommen, was dann geht und was nicht“. Man wappne sich für mögliche neue Herausforderungen. Sie wünsche sich dabei vor allem „eine Kultur der Haben-Seite“, sagt die 45-Jährige. Man solle auf Erfolge schauen, auf Leistungen – und weniger auf bürokratische Vorgaben. Trittmann kennt Fälle, in denen Geflüchtete, die sich – beispielsweise durch eine abgeschlossene Ausbildung – gut in die Gesellschaft eingefunden hatten und dann doch wieder um ihr Bleiberecht bangen mussten, weil sie keinen Pass vorlegen konnten. Leider passiere es immer wieder, das eine eigentlich geglückte Integration scheitere. Sie plädiert dafür, jeden Einzelfall genau zu prüfen, und zwar am besten im Zusammenspiel mit allen Beteiligten. Entscheider müssten sich häufiger trauen, ihr Ermessen zu nutzen: „Es handelt sich um Menschen, und die haben ein Recht auf eine Chance.“

Das sagen eine Lehrerin und ein Lehrer

Auch an den Schulen ist viel passiert seit 2015: Was ist der beste Weg, um Flüchtlingskinder zu integrieren, sie an Gleichaltrige heranzuführen, ihnen Selbstbewusstsein auf dem Weg ins eigenständige Leben mitzugeben? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Martin Kahlert. Er koordiniert die so genannten Seiteneinsteiger am Gymnasium Broich, Diana Papaioannou tut gleiches am Gymnasium Heißen. Beide verfolgen seit Jahren, wie sich die Kinder und Jugendlichen im eigens für sie ausgetüftelten Schulsystem entwickeln. Beide kennen Erfolgsgeschichten, aber auch Bildungsbiografien, die gescheitert sind. Es sei eben kein Fall wie der andere, betont Kahlert. „Einige kommen hierher, weil sie geflohen sind, andere wegen der EU-Freizügigkeit. Einige müssen mit Kriegserlebnissen fertig werden, andere nicht.“ Und häufig hätten die Jungen und Mädchen noch nie etwas vom lateinischen Alphabet gehört.

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Stück für Stück versuchen die Neuankömmlinge, sich im deutschen System zurechtzufinden, zu den einheimischen Mitschülern aufzuschließen. Im besten Falle erreichen sie die Oberstufe und mehr. So wie der syrische Junge, der 2016 aus der Heimat fliehen musste, in Heißen aufgenommen wurde, und von dem Papaioannou jetzt begeistert erzählt: „Er hat im Frühjahr Abitur gemacht.“

Zwei Jahre intensiver Deutschunterricht sind mindestens nötig für die Kinder, die aus der Ferne kommen. Und natürlich bedarf es auch der anderen Fächer – beim Unterricht in Mathe, Bio, Geschichte und Co. aber können nicht alle Mülheimer Schulen gleich agieren. Das wird deutlich bei den 14 bis 16 Jahre alten Seiteneinsteigern. Jüngere Kinder werden den Gymnasien vom Kommunalen Integrationszentrum nicht mehr zugewiesen. Sie gehen auf die Gesamtschule, wo ihnen alle Abschlüsse offenstehen, sie in keinem Fall mehr wechseln müssen. Die älteren aber kommen nach Broich, Heißen und anderswo.

„Bei uns haben sie separat zehn bis zwölf Stunden Deutsch in der Woche, in den anderen Stunden aber sind sie in den regulären Klassen“, berichtet Papaioannou. Mit Gleichaltrigen auf Klassenfahrt zu gehen, auch bei Ausflügen dabei zu sein, sei elementar für die Integration. „Wer das Gefühl hat dazuzugehören, ist glücklicher und kann besser lernen.“ In Broich und an anderer Stelle sieht man das ähnlich, muss aber notgedrungen einen anderen Pfad einschlagen: Die Schüler sind für zwei Jahre lang Teil einer eigens gebildeten internationalen Klasse, sind im Unterricht unter sich. Das, so glaubt Martin Kahler, könne die Integration der aktuell zwölf Acht- und Neuntklässler schon erschweren, aber leider gebe es keinen anderen Weg. Denn die regulären Klassen seien übervoll. Und ein Gutes habe diese Trennung ja auch: „Man kann zielgerichteter unterrichten, besser auf das Niveau des einzelnen Schülers eingehen.“

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In Broich sei in den Mauern des Gymnasiums gewissermaßen eine Parallelschule geschaffen worden, mit eigenem Lehrplan, der sich eher an der Hauptschule orientiert. Das sei Neuland für manchen Gymnasiallehrer; es gebe Fortbildungen. Und wenn’s gut läuft, führt der Weg trotzdem Richtung Abitur. „Im Einzelfall kann ein begabter Schüler auch schon früh in den Fachunterricht der anderen Schüler wechseln.“ Für Kahlert ist immer wieder erstaunlich, wie einige Schüler es schaffen, in sehr kurzer Zeit Deutsch zu lernen und all die anderen Fächer, um tatsächlich am Gymnasium zu bestehen. „Aktuell haben wir fünf ehemalige Seiteneinsteiger in der Oberstufe. Das sind die Fälle, die einen bestärken weiterzumachen, die Ausgleich sind für manche Frustration.“

Diana Papaioannou freut sich, dass die Schulen aktuell von G 8 auf G 9 umstellen. „Das gibt den neuen Schülern mehr Zeit. Wenn sie das Zeug haben, schaffen sie es künftig einfacher zum Abi.“ Sie motiviere die Flüchtlingskinder immer wieder gern mit dem Spruch: „Ihr seid so stark, ihr leistet so viel.“

Das sagt der Leiter des Sozialamtes

Sollte es tatsächlich noch einmal eine mit 2015 vergleichbare Situation geben, bliebt einer gewiss gelassen: Thomas Konietzka, seines Zeichens Leiter des Sozialamtes und gewissermaßen Manager des ganzen Geschehens. Die Zeit damals, so räumt er ein, habe „Kraft gekostet“.

Doch man habe viel gelernt in der Drucksituation und die Folgejahre gut genutzt. „Wir haben die Szenarien, die wir erlebt haben, verallgemeinert und in Arbeitsstandards gebracht.“ Ein Leitfaden sei entstanden, ähnlich klassischer Ablaufdiagramme. „Jede Fachkraft kann nun nachschlagen, wer bei einer Frage in der Verantwortung ist, wer was zu tun hat.“

Diese Struktur sei unter anderem Resultat aus dem Landesprojekt „Einwanderung gestalten“, an dem die Behörde zwischen 2016 und 2019 teilgenommen hat. Das nun „sehr geordnete Vorgehen“ trage in künftigen Fällen gewiss dazu bei, „dass sich Geflüchtete bei uns aufgehoben fühlen“. Man wisse genau, wie zu reagieren sei, etwa bei Fragen zum Deutschunterricht, zu Wohnungen, aber auch bei Problemen wie Trennung oder Straffälligkeit.

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Das Sozialamt arbeitet bei dem Thema mit vielen städtischen Stellen zusammen: mit Immobilienservice, Kämmerer, Jobcenter. . . „Der unmittelbare Kontakt mit den Menschen aber lag und liegt bei uns.“ Als es im Frühjahr vorübergehend hieß, die Türkei habe die Grenzen aufgemacht und möglicherweise kommen wieder viele Menschen nach Deutschland, da habe er gedacht: „Ja, wenn das so ist, dann ist das so. Wir wissen ja, wie es geht und mit wem wir zusammenarbeiten können. Wir kriegen das hin.“

Thomas Konietzka, Leiter des städtischen Sozialamtes.
Thomas Konietzka, Leiter des städtischen Sozialamtes. © Walter Schernstein

Thomas Konietzka ist in vielerlei Hinsicht mit dem Flüchtlingsthema beschäftigt – und manchmal hadert er. Nicht immer stimme das Gefühl des „privaten Konietzka“ mit der dienstlichen Aufgabe des Behördenleiters überein. Dass Europa sich zusehends abschotte, sieht er kritisch, an die Gesetze müsse er sich dennoch halten. „Die Politik scheint das auszuhalten – ich empfinde vieles, was an den EU-Außengrenzen oder in Lagern wie in Griechenland passiert, als unmenschlich.“ Er denke nach wie vor, dass 2500 Flüchtlinge in der Hochzeit nicht wirklich viel waren, gemessen an den 170.000 Einwohnern in der Stadt. „Eigentlich gab es keine Notwendigkeit, dass das Thema eine so hektische Bedeutung bekam.“

Heute leben noch 900 Geflüchtete in städtischen Einrichtungen: am Klöttschen, an der Oberheidstraße, der Schumannstraße, der Gustavstraße und in Wohnungen über die Stadt verteilt. „All diese Menschen haben einst die fundamentale Entscheidung getroffen, aus höchster Not alles stehen und liegen zu lassen und sich auf den Weg zu machen. Sie haben die Chance verdient, dass ein hinreichend reiches Land wie unseres sie willkommen heißt.“