Herne. In diesem Alter galt er lange Zeit als unvermittelbar. WAZ-Reporter Tobias Bolsmann (58) sucht einen neuen Job – und wird ganz schön überrascht.
„Händeringend“ ist das Stadium kurz vor „verzweifelt“. So lässt sich die Gefühlslage von Unternehmen beschreiben, die auf der Suche nach Arbeitskräften sind. Wie dramatisch die Lage inzwischen ist, hat WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann getestet - beim Speeddating des Herner Jobcenters am Dienstag. Er hat sich selbst bei mehreren Firmen beworben...
Dabei habe ich inzwischen ein Alter erreicht, in dem ich bis vor wenigen Jahren als kaum noch vermittelbar gegolten hätte: Doch für keins der Unternehmen, bei denen ich mich vorgestellt habe, betrachtet meine 58 Jahre als Hemmnis für eine Einstellung. Alter sei kein Kriterium, sagen die Personalberater im Kulturzentrum unisono. „58 ist doch noch lange kein Alter“, sagt zum Beispiel Christian Hoja von der Herner Trautwein GmbH, eine Wert- und Sicherheitsdruckerei für staatliche Institutionen, Handel, Industrie und den Dienstleistungssektor. Was er meint: Wenn ich mit 67 Jahren in den Ruhestand gehe, habe ich noch neun Jahre. Lediglich Frank Pilz von der Handwerks-Tochterfirma des Wohnungsunternehmens Vonovia hält die 58 für grenzwertig. „Aber bei sehr, sehr guter Qualifikation...“ Allerdings falle ich als jemand, dessen handwerkliche Fähigkeiten nur wenig über das Einschlagen eines Nagels hinausreichen, bei Vonovia tatsächlich durchs Raster. Eine Ausnahme, wie sich zeigen wird.
Was ebenfalls deutlich wird: Im Grunde genommen sitze nicht ich auf dem Bewerberstuhl, sondern die Arbeitgeber. Warum, das offenbart sich im Gespräch mit Nina Möllmann, Geschäftsführerin der Hospitrans GmbH, einem Unternehmen im Rettungsdienst und Krankentransport: „Händeringend“ würden sie Personal suchen. Doch ausgebildetes Personal in diesem Bereich sei eine Rarität, also muss Möllmann einen anderen Weg gehen. Das Unternehmen finanziert Quereinsteigern die Ausbildung zum Rettungssanitäter oder zum Rettungshelfer. Die Bedingung: Die Mitarbeiter müssten mindestens ein Jahr lang im Unternehmen bleiben. Um überhaupt Interessenten zu bekommen, hätten sie die Anforderungen heruntergeschraubt, „sonst bekommt man gar keinen mehr“. Und wenn jemand eine 4-Tage-Woche verlangt? „Wir passen uns inzwischen den Mitarbeitern an“, so Personalsachbearbeiter Eike Auerbach. Der Dienstplan würde quasi um die Wünsche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter herum gebastelt. Ach, und mit Mindestlohn komme man auch nicht weit, da müsse man schon mehr bieten. Und was heißt das für mich? „Sie könnten sofort starten“, sagt Nina Möllmann.
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Dass Lkw- und Busfahrer Objekte der Begierde bei den entsprechenden Unternehmen sind, ist inzwischen Legende. Dementsprechend hat auch die HCR beim Speeddating die Angel ausgeworfen. Ich werfe einen Blick auf die Anforderungen: einwandfreies Führungszeugnis? Hab ich! Möglichst keine Eintragungen im Verkehrszentralregister? Hab ich! Guter medizinischer Allgemeinzustand? Hab ich! Belastbarkeit und Zuverlässigkeit? Würde sagen: Hab ich! Freundlichkeit und gute Umgangsformen? Passt auch. Lediglich bei der Führerscheinklasse D muss ich passen. Den könnte ich natürlich nachholen, das koste aber rund 17.000 Euro, so Marina Brinkhoff aus der HCR-Personalabteilung. Ansonsten wären meine Chancen hoch. Auch Brinkhoff erzählt, dass die HCR die Anforderungen ein wenig heruntergeschraubt habe, um die Trefferquote zu erhöhen.
Auch bei der Unternehmensgruppe Heitkamp käme ich wohl in die engere Auswahl – wenn mir körperliche Arbeit liegt. Heitkamp sucht unter anderem Bauhelfer. Da gibt es auch Aufstiegsmöglichkeiten zum Facharbeiter, klärt mich Amelie Thomas auf, die selbst noch in der Ausbildung ist. „Viele wollen aber nicht mehr körperlich arbeiten“, weiß sie zu berichten. Doch Heitkamp suche deutlich mehr Personal - in allen Bereichen, denn das Unternehmen hat einen Großauftrag für den Bau einer Erdkabel-Stromtrasse an Land gezogen: 38 Vollzeit- und sechs Azubi-Stellen sind im Angebot. Beim Speeddating habe sie schon einige interessante Erstgespräche geführt.
Gute Chancen auf einen Job in der Qualitätssicherung bei Trautwein
Janine Doering-Knop von der Essener BOB-Autohausgruppe hat 36 Stellen im Gepäck, doch die Resonanz beim Speeddating bezeichnet sie als eher durchwachsen. „Wir fragen uns, wo die ganzen Leute sind“, sagt sie. Als Kfz-Mechatroniker könnte ich wohl sofort einen Arbeitsvertrag unterschreiben, ist aber eher nicht mein Gebiet. In anderen Bereichen würde BOB auch Quereinsteiger einstellen, allerdings könnte das schwierig für mich werden, meine Auto-Affinität ist so mittel.
Zurück zu Trautwein und Christian Hoja. Bei der Bedienung einer Druckmaschine sieht er mich nicht, aber als jemand, der täglich mit Sprache zu tun habe, wäre ich in der Qualitätssicherung gut aufgehoben, denn dort werde zum Beispiel auch Korrektur gelesen. Noch ein Job zur Auswahl.
OB: Arbeitsmarkt entscheidend für die Entwicklung der Stadt
Das Speeddating wurde in einer Kooperation von Jobcenter und der Kolping Bildung Deutschland GmbH veranstaltet. Kolping hat die Jobcenter-Kunden vorbereitet, damit die rund 30 Firmen und Bewerber möglichst gut zusammen passen. Knapp 200 Bewerber nahmen am Speeddating teil, allerdings waren deutlich mehr eingeladen. Für Hernes OB ist so ein Format deshalb wichtig, weil der Arbeitsmarkt nach wie vor eins der entscheidenden Themen für die Entwicklung der Stadt sei.