Herne. Flucht, Corona, Krieg, Kobra und ein Schicksalsschlag: Hernes scheidender Sozialdezernent blickt auf Jahre mit riesigen Herausforderungen zurück.
Nach mehr als neun Jahren im Herner Verwaltungsvorstand wechselt Sozial- und Gesundheitsdezernent Johannes Chudziak nach Münster zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Im Gespräch mit der WAZ zog der 44-Jährige Bilanz.
Sie sind in Ihrer Amtszeit als Dezernent mit zwei der größten Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte konfrontiert worden: mit dem massiven Zuzug von Geflüchteten ab 2015 und der Corona-Pandemie ab 2020. Was war im Rückblick die größere Herausforderung?
Johannes Chudziak: Beides war schwierig. Die Bewältigung der Flüchtlingskrise war die größere Aufgabe, doch wir hatten zwischendurch immer wieder auch Erfolgserlebnisse bei der Unterbringung von Menschen. In der Pandemie hatte man sich dagegen zwischenzeitlich die Frage gestellt: Wann wird das jemals zu Ende gehen? Die psychische Belastung war deutlich größer.
Zunächst zur Flüchtlingskrise: Am 20. Juli 2015 hat Ihnen die Bezirksregierung Arnsberg um 13 Uhr telefonisch mitgeteilt, dass Sie um 20 Uhr in Herne mehr als 100 Menschen unterbringen müssen. War das die größte Zumutung in Ihrer Amtszeit?
Es war zumindest die größte Überraschung. Ich war ja erst an diesem Tag nach meinem Urlaub an meinen Schreibtisch zurückgekehrt und hatte noch wenige Stunden vor dem Anruf aus Arnsberg in der WAZ gelesen, dass die Bezirksregierung für Herne zunächst keine größeren Zuweisungen plane. Die Botschaft aus Arnsberg lautete: Ihr müsst 150 Menschen unterbringen. Das war ein Schock. Wir haben gesagt: 150 geht gar nicht, wir müssen zunächst mal schauen, was überhaupt möglich ist. Am Abend kamen 100 Menschen, die wir zunächst in einer Zeltstadt auf dem Nebenplatz des Sportparks Wanne-Süd untergebracht haben. Drei Tage später haben wir die Halle des Sportparks in eine provisorische Unterkunft umgewandelt.
2016 konnten Sie endlich die letzten provisorischen Unterkünfte für Geflüchtete freiziehen. Wie bewerten Sie aus heutiger Sicht das damalige Krisenmanagement der Stadt?
Im Nachhinein muss ich sagen: Wir waren wirklich gut. Das war eine Superleistung aller beteiligten Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der damaligen Sozialamtsleiterin Brigitte Bartels. Das leidige Thema Geld - wer bezahlt das alles und welche Kosten bleiben bei der Stadt hängen? - hat mich allerdings noch deutlich länger beschäftigt. Eigentlich bis heute …
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Hatten Sie nach dem Angriff der Russen am 24. Februar 2022 auf die Ukraine ein Déjà Vu, weil Sie erneut innerhalb kürzester Zeit Geflüchtete unterbringen mussten?
Ja, ein solches Déjà Vu hatte ich. Überraschend war allerdings die Erfahrung, dass wir als Stadt in den Gesprächen mit der neuen Landesregierung wieder bei Null anfangen mussten.
Konnten Sie denn wenigstens vor Ort auf die Erfahrungen von 2015/16 bauen?
Ja. Wir haben in Herne schnell reagiert, weil wir bei der Aufnahme ukrainischer Menschen auf frühere Strukturen und Netzwerke zurückgreifen konnten. Was man aber auch sagen muss: Wir hatten in der ersten Phase einen nicht so großen Zustrom wie beispielsweise Dortmund, Bochum oder Essen. Das hat uns etwas geholfen.
Und wie ist heute die Situation?
Im Moment sind wir an der Kante und können sagen: Wir schaffen es gerade so. Anfang 2023 wird die große Landesunterkunft an der Dorstener Straße in Betrieb gehen. Die dort untergebrachten Flüchtlinge werden ja zum Teil auf unsere Aufnahmequote angerechnet.
Was wird aus der im April 2022 eingerichteten städtischen Notunterkunft in der ehemaligen Janoschschule in Baukau?
Wir planen, diese Einrichtung nur bis zum 31. März vorzuhalten. Man muss aber abwarten, wie sich die Situation in der Ukraine entwickelt. Seit dem Sommer werden uns aber auch wieder vermehrt Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien und Afghanistan zugewiesen. Das macht uns derzeit größere Sorgen.
Unterbringung ist das eine, Integration das andere. Auch in Herne gibt es große Probleme mit zugewanderten EU-Bürgern aus Bulgarien und Rumänien – so wie zuletzt am Steinplatz in Wanne-Süd, wo es massive Beschwerden gab. Sie haben bereits 2015 eine Anlaufstelle für Südosteuropäerinnen und -europäer eingerichtet. Täuscht der Eindruck, dass die Probleme dadurch nicht gelöst wurden?
Nein, dauerhaft gelöst sind die Probleme nicht, was aber auch mit der Fluktuation in der Zielgruppe zu tun hat. In meiner Wahrnehmung hat es in diesem Jahr allerdings weniger Beschwerden als in den Jahren zuvor gegeben. Es gibt also offenbar einen gewissen Lerneffekt. Letztlich funktioniert Integration aber vor allem über die Kinder. Wir hoffen, dass wir hier durch die Neuaufstellung über das Kommunale Integrationszentrum positive Effekte erzielen können. Es ist und bleibt jedoch ein schwieriges Thema.
Stichwort Pandemie: Wann haben Sie realisiert, dass in Herne und auch für Sie als städtischer Gesundheitsdezernent nichts mehr so ist, wie es mal war?
Es hat ja 2020 alles mit der Karnevalsveranstaltung im Kreis Heinsberg begonnen. Kurz danach hatten wir die ersten Fälle in der Stadt und in Schulen, dann mussten wir das Gymnasium Eickel schließen. Medizinisch war zunächst vieles unklar. Intern war es fürs Gesundheitsamt ein riesiger Prozess - ein Sprung von Faxgerät und Excel-Tabelle hin zur kompletten Digitalisierung. Wir mussten außerdem viel Personal aus anderen Bereichen rekrutieren. Der Arbeitseinsatz war bemerkenswert. Einige Kolleginnen und Kollegen feiern heute noch Überstunden aus dieser Zeit ab.
Herne war bei den Infektionszahlen im bundesweiten Vergleich zwischenzeitlich ganz weit oben oder sogar Spitze. Worauf führen Sie das zurück?
Komplett erklären kann man das nicht. Dass wir häufiger Hotspot waren, hat auch daran gelegen, dass wir im Gegensatz zu einigen anderen Kommunen unsere Infektionen zeitnah gemeldet haben.
Und welche Bilanz ziehen Sie fürs Impfen?
Das ist hervorragend gelaufen. Wir waren bei den Impfquoten in NRW und auch bundesweit vorne dabei, weil wir früh mit mobilen Vor-Ort-Impfungen begonnen haben und häufiger pragmatisch gehandelt haben. Einige Kommunen haben versucht, sich in den regelmäßigen Videokonferenzen mit dem Land für jeden einzelnen Schritt abzusichern. Wir haben bestimmte Fragen gar nicht erst gestellt, sondern einfach gemacht – zum Beispiel beim Verimpfen von Restimpfstoffen an Feuerwehrleute.
Was ist weniger gut gelaufen?
Die Zusammenarbeit mit den Kassenärzten war anfangs sehr schwierig. Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe hatte anfangs die Haltung: Impfen ist unsere Aufgabe, die Kommunen sollen sich raushalten. Kurz darauf wurde dann festgestellt, dass das so nicht funktioniert.
Wie sieht Ihre Prognose für die weitere Corona-Entwicklung aus?
Ich glaube, dass die letzten Schutzmaßnahmen im Frühjahr aufgehoben werden können, sofern es keine neue hochgefährliche Mutation geben sollte. Im Moment sieht es so aus, dass die Varianten zwar ansteckender sind, aber dafür weniger schwere Verläufe zur Folge haben.
Ihre größte persönliche Herausforderung in Herne war nicht beruflicher, sondern persönlicher Art: Sie waren schwer erkrankt.
Das ist richtig. Im Januar 2014 ist bei mir Krebs diagnostiziert worden. Ich hatte einen Gehirntumor, der nicht heilbar ist und praktisch immer wieder auftauchen könnte. Ich gehöre zu den Langzeitüberlebenden, muss nach meiner Operation aber weiter Medikamente nehmen und alle acht Wochen zur Kontrolle. Abschließend wird dieses Thema nie für mich erledigt sein.
Wann sind Sie in den Dienst zurückgekehrt?
Mitte Juli 2014. Unter den Folgen hatte ich aber noch länger gelitten. Ich bin nach meiner Rückkehr in den Dienst nach einem Bürotag und dem Abendessen auf die Couch gefallen und eingeschlafen. Es hat sich recht lange hingezogen, bis alles wieder normal war.
Hat sich durch die schwere Krankheit Ihre Einstellung zum Leben und auch zum Beruf geändert?
Jein. Am Anfang war das noch der Fall. Ich hatte mir gesagt, dass ich mich nicht mehr über alles aufrege. Ich muss aber feststellen: Der Effekt lässt nach.
Zurück zu Ihrer beruflichen Bilanz: Welche Themen bleiben neben Flucht und Pandemie bei Ihnen hängen?
Natürlich die Schlange …
Sie meinen die im Sommer 2019 in einem Mietshaus ausgebüxte giftige Kobra, die dann erst nach fünf Tagen beim Mähen hinter dem Haus gefunden wurde.
In der Rückschau ist das eine amüsante Episode, aber damals war es für mich als verantwortlicher Ordnungsdezernent alles andere als lustig. Wir wurden eine Woche lang von den Medien regelrecht belagert, die Kobra war so etwas wie ein „Sommerloch-Tier“. In diese Zeit fiel dann auch noch die Einschulung meines jüngsten Sohnes, die dann nicht ganz so entspannt verlief wie bei meinen beiden anderen Kindern …
Sie sind auch Dezernent für Arbeit. Trotz aller Verbesserungen ist die Arbeitslosigkeit und insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit nach wie vor ein großes Problem in Herne.
Das ist richtig. Die Situation war und ist nach wie vor schwierig. Es hat sich aber durchaus eine Menge getan. Wir haben mit dem vom Oberbürgermeister gegründeten Bündnis für Arbeit, Programmen des Jobcenters und Firmenansiedlungen insbesondere im Logistikbereich einiges bewegen können. Wir haben bei der Beschäftigung einen stetigen Anstieg, es entwickelt sich in die richtige Richtung. Leider verhageln uns externe Faktoren ein wenig die Bilanz.
Was meinen Sie damit?
Zu diesen Faktoren zählt die Pandemie, aber auch die Zuwanderung durch Syrer und aktuell durch Ukrainer. Diese Menschen können nicht so schnell in Arbeit vermittelt werden. Rechnet man diese Effekte heraus, haben wir die Zahl der Bedarfsgemeinschaften in Herne deutlich senken können.
Im Bund wird zum 1. Januar Hartz IV durch das Bürgergeld ersetzt. Der richtige Weg?
Die wesentliche Änderung ist ja, dass langfristige Perspektiven den Vorrang haben sollen vor kurzfristiger Beschäftigung. Das halte ich für einen wichtigen Schritt. Ich finde es auch richtig, dass man nicht generell auf Sanktionen verzichten wird und dass die Regelsätze angehoben werden.
Warum wechseln Sie zum LWL nach Münster: weil Sie dort mehr Geld verdienen oder weil Ihre Arbeit dort in ruhigeren Bahnen verläuft und Sie nicht mehr so stark von der Tagespolitik abhängig sind?
(Lacht) Mehr Geld verdiene ich in Münster nicht, wirtschaftlich macht es keinen Unterschied. Die Aufgabe als Sozialdezernent beim Landschaftsverband reizt mich sehr. Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ist ein sehr spannendes Feld, in dem viele Weichen neu gestellt werden.
Werden Sie Herne verlassen und zurück nach Münster ziehen?
Nein, zunächst nicht. Ich werde pendeln. Meine Kinder gehen in Herne zur Schule und sind hier verwurzelt.
Der Lieblingsort, der Herzensverein und der OB seiner Wahl
Was ist Ihr Lieblingsort in Herne?
Die Cranger Kirmes.
Welcher Fußballverein im Ruhrgebiet liegt Ihnen als bekennender Fan des VfL Osnabrück besonders am Herzen?
Der VfL Bochum. Das ist aber erst hier entstanden. Meine Maxime lautet: Support your local team. Und: Bayern geht gar nicht. Bei meinen beiden Söhnen ist die Erziehung geglückt: Sie sind stramme VfL-Bochum-Fans.
Entweder/oder: Frank Dudda oder Horst Schiereck?
Frank Dudda.
Was werden Sie aus Herne in Münster auf keinen Fall vermissen?
Man könnte sicherlich einige Dinge nennen – aber nicht in der Öffentlichkeit.
Was werden Sie auf jeden Fall vermissen?
Viele Kollegen. Manchmal tut es mir leid, dass ich sie nicht mitnehmen kann.
Zur Person: Gebürtiger Berliner und Fan des VfL Osnabrück
Auf Vorschlag der SPD ist Johannes Chudziak im Mai 2013 vom Rat der Stadt zum neuen Sozial- und Gesundheitsdezernenten gewählt worden. Im April 2021 erfolgte seine Wiederwahl für acht weitere Jahre.
Zuletzt war der Jurist in der Herner Verwaltung zusätzlich für den Bereich Sport zuständig. Bis 2015 trug er zudem die Verantwortung für die Feuerwehr sowie bis 2020 für den Fachbereich Ordnung und damit auch für die Cranger Kirmes.
Der gebürtige Berliner lebt in Elpeshof. Er ist verheiratet und hat mit seiner Frau drei Kinder – eine Tochter und zwei Söhne (13, 11 und 9).
Der Wechsel nach Münster zum 1. Januar 2023 ist für den Sozialdemokraten – er saß einst für die SPD im Osnabrücker Rat – auch eine Rückkehr: Bis 2013 war er Referatsleiter beim LWL.