Herne. . Herne habe die riesigen Herausforderungen in der Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen gut bewältigt, sagt Sozialamtschefin Brigitte Bartels.

Der Zustrom von Flüchtlingen stellt die Stadt und insbesondere den Fachbereich Soziales vor riesige Herausforderungen.

Die WAZ sprach mit Brigitte Bartels (59), Leiterin des städtischen Fachbereich Soziales.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt angesichts der großen Zahl der Flüchtlinge: „Wir schaffen das.“ Sagt auch die Herner Sozialamtsleiterin Brigitte Bartels: „Wir schaffen das“?

Brigitte Bartels: Wir müssen das schaffen, wir haben ja keine andere Chance. Wir können die Zuweisung und die Einrichtung von Notunterkünften nicht steuern, sondern müssen reagieren. Wir haben seit der Einrichtung der ersten Notunterkunft im vergangenen September alles gut stemmen können. Der logistische und administrative Aufwand war zu Beginn immens hoch. Wir mussten das zunächst mal lernen. Von Mal zu Mal funktioniert das Zusammenspiel besser; inzwischen hat sich eine Art Automatismus entwickelt.

Haben Sie angesichts der großen Herausforderungen auch mal gezweifelt und gedacht: Wie sollen wir das alles schaffen?

Es gab auch Zweifel. Vor allem am 20. Juli, als wir innerhalb von rund sieben Stunden die Notunterkunft im Sportpark Eickel einrichten mussten. Das war die bisher größte Herausforderung, die wir aber gemeistert haben. Vor einigen Tagen hatten wir ebenfalls eine schwierige Situation, als plötzlich 25 Menschen vor einer Einrichtung standen, die gar nicht vorgesehen war für die Unterbringung. Auch das haben wir hin bekommen. Ich muss aber hinzufügen: Ohne die Wohlfahrtsverbände, ohne die Hilfsorganisationen und Ehrenamtler hätten wir das alles nicht schaffen können.

Gab es ganz besondere oder schöne Momente bei Ihrer Arbeit in den vergangenen Monaten?

Die gibt es. Wir haben viel Kontakt zu den Flüchtlingen, die Dankbarkeit ist sehr groß. Die ersten Worte, die die Menschen lernen, sind „Hallo“ und „Dankeschön“. Es sind auch persönliche Kontakte entstanden. Das geht so weit, dass Flüchtlinge, die erst in Herne waren und dann anderen Städten zugewiesen worden sind, zurückkommen. Es gibt einen Mann, der sich ein Sozialticket gekauft hat und jeden Tag von Voerde nach Herne fährt. Er isst in der Einrichtung und hilft mit. In einigen Fällen sind wir bemüht, Flüchtlinge in Herne zu halten, weil sie bereits integriert sind. Einige haben hier Deutschkenntnisse erworben, kennen sich aus und haben sich zum Beispiel in Sportgruppen eingebracht. Andere wiederum helfen beim Tagesprogramm in der Notunterkunft bzw. helfen bei der Sauberhaltung und Ordnung. Es gibt auch Flüchtlinge mit medizinischem Hintergrund, die niedrigschwellig unterstützen.

Die Belastungen für die Mitarbeiter insbesondere im Fachbereich Soziales und für Sie sind sehr groß. Zählen Sie Ihre Überstunden überhaupt noch?

Wenn ich ehrlich bin: Ich habe annähernd 500 Überstunden. Es kommen spätabends oder am Wochenende Anrufe und Nachfragen, auch von der Bezirksregierung. Häufig besteht Handlungsbedarf. Es gibt auch Situationen, in denen ich mich um Einzelfälle kümmere.

Geht das bei Ihnen auch schon mal über die Grenzen der persönlichen Belastung hinaus?

Ich tanke zwischendurch immer mal wieder für einige Tage auf. Meine zweite Heimat ist die Pfalz, dort lebt meine Tochter mit ihrer Familie. Ich fahre bisweilen von Freitag bis Sonntag dorthin, um abzuschalten. Das muss einfach sein.

Das Personal im Fachbereich Soziales ist bereits aufgestockt worden. Reicht das aus?

Wir beobachten die Entwicklung der Fallzahlen genau und haben den Personalschlüssel neu definiert. Die Dynamik ist im Flüchtlingsbereich aber sehr groß. Und es gibt ja auch gesetzliche Änderungen, die Auswirkungen haben. Neues Personal muss aber auch erst einmal eingearbeitet werden. Ich muss gestehen, dass mir einige Mitarbeiter leid tun, insbesondere junge Menschen, die neu sind und ins kalte Wasser geworfen werden.

Noch mindestens 430 Flüchtlinge aufnehmen 

Es gibt fast täglich neue Prognosen über Flüchtlingszahlen. Stand heute: Wie viele Flüchtlinge muss Herne in diesem Jahr noch aufnehmen?

Ich gehe mal von der amtlichen Prognose aus: Die Bezirksregierung hat bereits die Zuweisung von 130 Flüchtlingen angekündigt. Sie kommen auf jeden Fall. Darüber hinaus erwarte ich, dass wir in diesem Jahr noch mindestens 400 Flüchtlinge aufnehmen müssen.

Wie wollen sie die Menschen unterbringen?

Die Einrichtung einer Erstaufnahmeeinrichtung in Form einer Notunterkunft an der Dorstener Straße wäre für uns die beste Lösung. Das hätte einen Entlastungseffekt, weil uns die dort aufgenommenen Menschen auf die regulär zugewiesenen Flüchtlinge angerechnet würden. Im Gegenzug könnten auch die Sporthallen wieder frei gezogen werden. Wir können darüber hinaus steuern, dass Flüchtlinge aus den Gemeinschaftsunterkünften in Wohnungen umziehen. Zurzeit laufen einige Mietverhandlungen. Wenn alles gut geht, können bis zum Ende des Jahres circa 220 Menschen Wohnungen beziehen. Einige Flüchtlinge gehen in ihr Heimatland zurück, auch wenn das nur wenige sind.

Haben Sie einen Plan B, wenn es wider Erwarten mit der Dorstener Straße nicht klappt?

Dann wird es sehr, sehr eng. Wir können in diesem Fall nur darauf hoffen, dass wir die geplanten und vom Rat beschlossenen 400 Plätze in Containern bis zum Jahresende belegen können.

In den vergangenen Tagen gab es Schlagzeilen über heftige Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen in großen Gemeinschaftsunterkünften. Gab es in Herne schon Zwischenfälle?

Es gab auch schon die eine oder andere Rangelei oder kleinere Prügelei. Das ging aber in der Regel von Einzelpersonen aus. Größere Zwischenfälle hatten wir bisher nicht. Das Betreuungspersonal und unsere eigenen Mitarbeiter, die täglich vor Ort sind, achten auf eine strenge Ordnung. Zum Beispiel bei der Sauberkeit, der Hygiene oder beim Anstellen fürs Essen. Sie achten auch auf das Stimmungsbild.

Schließen Sie aus, dass es auch in Herne zu Eskalationen kommen könnte?

Ausschließen kann man das nicht. Bei Zwischenfällen schreiten wir aber sofort ein. Das Sicherheitspersonal ist noch weiter aufgestockt worden. Wir haben immer fünf Kräfte vor Ort. Auch den Schlüssel der Sozialbetreuer haben wir angepasst. Wir halten auch regelmäßig Kontakt zur Polizei. Zurzeit ist es beherrschbar. Man darf aber nicht vergessen: Es gibt eine große Fluktuation. Wir wissen nicht, wer noch kommt.

In anderen Städten wird über die Trennung von Religionen und Nationalitäten in Gemeinschaftsunterkünften diskutiert.

Wir sehen dafür derzeit keine Notwendigkeit. Im Gegenteil, wir beobachten, dass in den Unterkünften Menschen unterschiedlicher Nationalitäten durchaus Freundschaften schließen.

Die Männer stellen in den Unterkünften die große Mehrheit. Ist der Schutz von Flüchtlingsfrauen gewährleistet?

Ja, darauf achten wir. Es gab auch schon mal Situationen, in denen wir einschreiten mussten. Die Mitarbeiter vor Ort wissen aber genau, was dann zu tun ist.

Die Einführung einer Krankenkassenkarte für Flüchtlinge wird zurzeit kontrovers diskutiert – auch in Herne. Die Ratsmehrheit hat aktuell einen Vorstoß der Opposition auf Einführung der Karte abgelehnt. Wäre es für Sie eine Erleichterung, wenn es eine solche Karte geben würde?

Grundsätzlich ja, aber nicht in der Form, wie sie derzeit vorgesehen ist. Auf dem Papier klingt alles sehr einfach, aber in der Praxis wäre der Aufwand recht groß. Das würde keine bürokratische Erleichterung bedeuten. So erfolgt zum Beispiel die Ausgabe der Gesundheitskarten durch die Krankenkasse. Nach der Rahmenvereinbarung ist jedoch die Kommune für die Einziehung der Gesundheitskarte und des Befreiungsausweises zuständig. Ebenso ist die Kommune für die An- und Abmeldungen nach der Rahmenvereinbarung zuständig. Hinzu kommt, dass, wenn zwischenzeitlich bereits bei einem Flüchtling eine gesetzliche Versicherungspflicht eingetreten ist und trotzdem die Gesundheitskarte noch in Anspruch genommen wird, die Kommune haftet. Sie muss dann selbst Erstattungsverfahren durchführen. Dieser Aufwand ist nicht zu unterschätzen. Und man muss auch die Kostenseite sehen: Für Herne würde das teurer werden.

Aber ist der Aufwand zurzeit nicht noch größer? Wenn Flüchtlinge zum Arzt wollen, müssen Sie zunächst zum Sozialamt, um für die Behandlung eine Bescheinigung zu erhalten.

Den Behandlungsschein bekommen sie in der Regel. Das läuft reibungslos. Bei uns ist eine Verwaltungskraft nur für diese Fälle zuständig. Und Flüchtlinge, die über die Grundversorgung hinaus dringend behandelt werden müssen, erhalten diese Behandlungen auch. In besonderen Fällen kooperieren wir mit unserem Gesundheitsamt.

Was geschieht, wenn es in den Unterkünften nachts oder an Wochenenden einen Notfall gibt oder eine Behandlung notwendig wird?

In akuten Notfällen kann natürlich jederzeit ein Rettungswagen gerufen werden. An Wochenenden haben wir einen besonderen Dienst für unsere Notunterkünfte: Eine Herner Bürgerin, die eine Arztpraxis in Castrop-Rauxel hat, kommt ehrenamtlich in diese Unterkünfte und führt dort kleinere Behandlungen durch. Sie hat mit Kolleginnen und Kollegen eine Art Netzwerk aufgebaut. Das ist toll. Wir haben auch ständig Behandlungsscheine vor Ort in den Notunterkünften.

Große Hilfsbereitschaft von Bürgern 

Die Bereitschaft von Herner Bürgern, Flüchtlingen zu helfen, war zu Beginn riesengroß. Ist das nach wie vor der Fall?

Die Hilfsbereitschaft ist nach wie vor groß. Wir haben das ganze System zunächst ein wenig ordnen müssen. Wir haben inzwischen ein großes Netzwerk aufgebaut. Wir sind zurzeit noch dabei, mit Ehrenamtlern Einzelgespräche zu führen und abzufragen, was sie machen möchten. Außerdem sind für die Koordinierung der Ehrenamtsarbeit zwei halbe Stellen eingerichtet worden bei der Caritas und beim evangelischen Kirchenkreis.

Neben den Hilfsangeboten gibt es auch negative Reaktionen aus der Bevölkerung. Dringt das zu Ihnen durch?

Natürlich. Bürger rufen bei uns an und fragen zum Beispiel: Welche Auswirkungen hat es, wenn Flüchtlinge in meiner Umgebung wohnen? Was bedeutet das für den Wert meiner Immobilie? Es gab auch schon mal konkrete Beschwerden in Wohnvierteln, in denen Flüchtlingskinder spät abends noch auf der Straße gespielt haben. Und an der neuen Unterkunft ist auch über Lärm geklagt. Wir haben das Sicherheitspersonal aufgefordert, dem nachzugehen.

Gibt es aus Ihrer Sicht Anzeichen, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippen könnte?

Im Moment sehe ich das nicht. Ich mache mir aber durchaus Sorgen. Wir können als Kommune nicht noch mehr Notunterkünfte einrichten.

Wenn Sie beim nächsten Flüchtlingsgipfel mit am Tisch sitzen und gefragt würden: Frau Bartels, welchen konkreten Wunsch können wir Ihnen erfüllen? Was würden Sie den Verantwortlichen in Bund und Land antworten?

Es wäre sehr wichtig, wenn die beschlossenen Instrumente zur Beschleunigung der Asylverfahren auch zügig umgesetzt würden. Menschen ohne Bleibeperspektiven dürften gar nicht erst den Kommunen zugewiesen werden. Wäre das der Fall, hätten wir 50 Prozent weniger Flüchtlinge, die wir zu versorgen und zu betreuen hätten.

Zahl der Plätze mehr als verdoppelt

340 Unterbringungsplätze für Asylbewerber gab es Anfang 2015 in Herne, weitere 380 hat die Stadt seitdem geschaffen.

Mit 750 Asylbewerbern sind die städtischen Gemeinschaftsunterkünfte zurzeit leicht überbelegt. „Wir werden auch noch mehr Plätze schaffen müssen“, sagt Brigitte Bartels. Die Stadt ist gesetzlich zur Aufnahme von Asylbewerbern verpflichtet.

In Notunterkünften für die Erstaufnahme von Flüchtlingen, die Herne „in Amtshilfe“ für die Bezirksregierung, sprich: auf Weisung einrichten musste, sind weitere 600 Asylbewerber untergebracht. Sie leben aber nur für einige Wochen in Herne, bevor sie anderen Städten zugewiesen werden.

Zur Person

1973 trat Brigitte Bartels mit 17 Jahren in Herne die Ausbildung zur Stadtinspektorin an. In den vergangenen 42 Jahren führte sie ihre Verwaltungslaufbahn vom Kassen- und Steueramt über die Rechnungsprüfung bis hin zu Stadtgrün. 2008 wurde sie stellvertretende Leiterin des Herner Sozialamtes.

Am 1. Dezember übernahm sie die Leitung des über 130 Mitarbeiter zählenden Fachbereichs.

Brigitte Bartels ist gebürtige Recklinghäuserin und lebt dort noch heute - „an der Stadtgrenze zu Herne“. Die 59-Jährige hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.