Herne. Wofür braucht man ein Stadtarchiv? Das sagen Jürgen Hagen und Alina Gränitz vom Herner Archiv im Interview. Und räumen mit einem Vorurteil auf.

Das Stadtarchiv in Herne hat eine virtuelle Ausstellung über die Geschichte zur Cranger Kirmes erarbeitet und online gestellt. Über das Stadtarchiv, seine aktuellen und künftigen Aufgaben sowie die Ausstellung sprach die WAZ mit den Ausstellungsmachern Jürgen Hagen und Alina Gränitz.

Fangen wir mit einem Vorurteil an: Wenn man im Stadtarchiv arbeitet, sieht man die Sonne selten.

Gränitz: Es kommt drauf an, wie sehr man in den Schätzen, also den Archivalien, vertieft ist. Dann verbringt man auch gerne mal längere Zeit im Magazinkeller. Trotzdem sind wir auch viel unterwegs, damit das stadtgeschichtliche Wissen ans Sonnenlicht kommt, sprich, wir zeigen unser Archivgut, zum Beispiel bei Stadtteilrundgängen. Da ist man häufig an der frischen Luft und bekommt sogar „Farbe“.

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Und noch ein Vorurteil: Stadtgeschichte ist eher was für ältere Semester.

Gränitz: Ganz und gar nicht. Es gibt viele junge Leute, die das Stadtarchiv für ihre Recherchen nutzen. Auch Schulklassen, die uns besuchen, sind immer wieder von unseren Räumlichkeiten und unseren Unterlagen begeistert. Die jüngere Generation hat ja kaum Bezugspunkte zur Vergangenheit und staunt immer wieder, wenn sie mit Materialien aus vergangenen Zeiten in Berührung kommt.

Hagen: Zurzeit forscht eine junge Frau, Anfang 20, zur Bunkergeschichte, und aktuell diskutierten Herner Themen, die Ergebnisse veröffentlicht sie auf ihrer Facebookseite „Stadtgeschichten vom Schlägel bis zum Eisen“. Ich finde so etwas toll. Zum einen, weil junge Menschen eine andere Sicht auf lokalgeschichtliche Ereignisse haben als die ältere Generation, zum anderen, weil sie ihre Erkenntnisse auf eine frische, unverkrampfte Art über die neuen Medien vermitteln.

Mitarbeiter des Stadtarchivs Herne: Leiter Jürgen Hagen und Alina Gränitz.
Mitarbeiter des Stadtarchivs Herne: Leiter Jürgen Hagen und Alina Gränitz. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Allgemein zu den Aufgaben des Stadtarchivs. Was ist seine Aufgabe?

Gränitz: Das Stadtarchiv ist das Gedächtnis der Stadt, sammelt und bewahrt das Wissen über das Leben in der Stadt und besonders die Unterlagen, die in der Stadtverwaltung „produziert“ werden. Neben dem Aufbewahren gehört auch die Bestandserhaltung, die Öffentlichkeitsarbeit und die Digitalisierung zu den Kernaufgaben des Stadtarchivs.

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Was verbirgt sich in Ihren Schränken?

Gränitz: Wir haben an die 3,5 Kilometer Akten, wobei ein laufender Meter ein Regalbrett im Archiv ist. Dies ist circa der Weg vom Kulturzentrum zum Gysenberg.

Hagen: Neben dem amtlichen Archivgut bewahren wir Unterlagen von Privatpersonen, Zeitungen, Vereinsunterlagen, Dokumentationen zu Wirtschaftsunternehmen und andere Dinge mehr. Eins muss dabei immer gegeben sein: der lokale Bezug.

Was sind denn die Top 3 der nachgefragten Archivalien?

Gränitz: Platz eins sind eindeutig die Personenstandsregister, dicht gefolgt von den Zeitungen. Platz drei teilen sich sowohl die Unterlagen zu den Kriegsjahren als auch die gesammelten Unterlagen zu Vereinen und Verbänden.

3,5 Kilometer lang sind die Archivalien im Herner Stadtarchiv.
3,5 Kilometer lang sind die Archivalien im Herner Stadtarchiv. © FUNKE Foto Services | Kerstin Buchwieser

Es gibt viele Geschichtsinteressierte, darunter auch Lokalhistoriker. Wie gestaltet sich denn die Arbeit mit den unterschiedlichen Interessensgruppen? Ist die immer harmonisch?

Hagen: Auf dem westfälischen Archivtag 2017 in Hamm gab es eine Diskussionsrunde mit dem sinnigen Titel: „Geschichtsvereine, Fördervereine, Freundeskreise – Fluch oder Segen, Pflicht oder Kür für Archive?“. Die Meinungen gingen auseinander. In Herne haben wir eine erfreulich breit aufgestellte stadtgeschichtliche Community. Neben einzeln agierenden Heimatforschern arbeiten wir mit verschiedenen Gruppen zusammen. Manchmal wird gestritten, aber nur in der Sache. Alles in allem also harmonisch. Ausnahmen bestätigen wie überall die Regel. Da gab es mal eine Gruppe von Heimatfreunden, bei der irgendwann die Harmonie endete. Die Stadtarchivtür steht dieser Gruppe aber weiterhin offen.

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Werden Archive irgendwann mal überflüssig, wenn immer mehr Wissen im Internet angereichert wird?

Gränitz: Eindeutiges nein. Das Internet kann nur ein Einstieg sein, übrigens auch unser „virtueller Lesesaal“. Tiefergehende Recherchen brauchen das Arbeiten mit den Originalen - korrespondierend mit einer persönlichen, fachlichen Beratung.

Hagen: Archive haben eine gesellschaftliche Verpflichtung Quellenkritik und Medienkompetenz zu fördern. Gerade in Zeiten von „alternativen Fakten“, Fake News und sogenannten Querdenkern. Aus dieser Verpflichtung heraus beteiligt sich das Stadtarchiv aktiv an lokalgeschichtlichen Diskussionen und ordnet Informationen und Ereignisse anhand der vorliegenden Originalquellen ein. Dieses faktenbasierte Einordnen gefällt nicht jedem, aber Geschichte und damit eben auch Archive halten in den allerwenigsten Fällen einfache Wahrheiten bereit.

Auf Platz zwei der beliebtesten Archivalien: Zeitungen, hier: eine historische Ausgabe des Herner Anzeigers.
Auf Platz zwei der beliebtesten Archivalien: Zeitungen, hier: eine historische Ausgabe des Herner Anzeigers. © FUNKE Foto Services | Kerstin Buchwieser

Mit der neuen Ausstellung über die Geschichte der Cranger Kirmes beschreitet das Stadtarchiv neue Wege und präsentiert sie im virtuellen Raum. Löst diese Form der Präsentation die gute alte „analoge“ Ausstellung ab?

Gränitz: Nein, die virtuellen Ausstellungen stellen ein zusätzliches Angebot dar, ebenso wie die mit dem Stadtmarketing Herne angebotenen Audiotouren „Hömma Herne!“. Hier holen wir die Menschen ab, die eher über digitale Formate und auf eigene Faust Stadtgeschichte erleben wollen. Die Menschen, die es lieber mit analogen Ausstellungen, Vorträgen oder Stadtrundgängen halten, vernachlässigen wir bei allem Digitalen nicht.

Was sind die künftigen Herausforderungen bei den Pflichtaufgaben?

Gränitz: Eine Herausforderung wird vor allem die Sicherung von digitalen Unterlagen sein, sprich die digitale Langzeitarchivierung, bei der die elektronisch produzierten Informationen für spätere Generationen erhalten werden müssen. Eine Mammutaufgabe, die die Archivwelt zurzeit auf der Suche nach der besten Strategie umtreibt.

Stimmen Sie der Aussage zu, dass Stadtgeschichte ein weicher Standortfaktor ist?

Hagen: Unbedingt. Stadtgeschichte verbindet und fördert eine gemeinsame Identitätsbildung in der Gesellschaft. Dem im Stadtarchiv aufbewahrten und gesicherten Erbe kommt dabei eine besondere Bedeutung für Bildung und Kultur, Institutionen und viele weitere Interessensgebiete und Fragestellungen zu.

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>> WEITERE INFORMATIONEN: Zur Person

Jürgen Hagen, 56 Jahre alt, verheiratet, ein Sohn. Seit 1984 bei der Stadt Herne beschäftigt, unter anderem im Sozial- und Standesamt. Seit 2007 im Stadtarchiv, zunächst als stellvertretender Leiter, seit August 2012 als Leiter. Von 2007 bis 2010 absolvierte er ein informationswissenschaftliches Studium an der Fachhochschule Potsdam.

Alina Gränitz, 28 Jahre alt, ist seit 2013 bei der Stadt Herne beschäftigt. Nach der Ausbildung zur Fachangestellten für medien- und Informationsdienste kam sie ins Stadtarchiv Herne. 2017 begann sie ihr berufsbegleitendes, informationswissenschaftliches Studium an der Fachhochschule Potsdam; voraussichtlicher Abschluss: Frühjahr 2022.

Das Stadtarchiv liegt im Kulturzentrum Herne (Willi-Pohlmann-Platz). Öffnungszeiten: Mo bis Mi 10 bis 12 und 13.30 bis 15.30, Do 10 bis 12 und 13.30 bis 18, Fr 10 bis 12 Uhr. Wegen der Corona-Pandemie ist eine Terminvereinbarung erforderlich. Kontakt: 02323/16-4719, E-Mail: stadtarchiv@herne.de