Hattingen. Tausende leben im Zweiten Weltkrieg unter unmenschlichen Umständen in Hattingen. Auch Maria Hoptinez aus der Ukraine, die 2003 zurückkehrt.
Maria Hoptinez war den Tränen nahe. Bei ihrem Besuch in Hattingen am 23. Juli 2003 las die Ukrainerin auf einem Grabstein auf dem russischen Ehrenfriedhof im Ludwigstal plötzlich den Namen einer Freundin, die wie sie während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiterin in Hattingen eingesetzt gewesen war. Maria, so erinnert sich Stadtarchivar Thomas Weiß, habe damals ein Bonbon aus der Heimat aus ihrer Tasche genommen und es auf das Grab der Toten gelegt. „In diesem Moment war sie gänzlich angekommen in der Erinnerung. Es war für uns alle ein sehr bewegender Moment.“
Als die Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Als Mahnung für die Zukunft.
Auf dem Ehrenfriedhof an der Straße Zur Maasbeck die letzte Ruhe gefunden
Die Freundin, an deren Grab Maria gut 58 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges stand, sei eines von insgesamt 356 nachweislich in Hattingen verstorbenen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern gewesen, sagt Weiß. 155, darunter 151 sowjetische Staatsbürger, haben dabei auf dem Ehrenfriedhof an der Straße Zur Maasbeck ihre letzte Ruhe gefunden. Doch gebe es, so Weiß, kaum einen Friedhof in Hattingen, auf dem nicht Gräber hier verstorbener Zwangsarbeiter zu finden seien.
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„Viele der hier verstorbenen Zwangsarbeiter hatten nicht einmal das 30. Lebensjahr vollendet, als ihr Leben endete“, sagt Weiß. Aufgrund der oftmals katastrophalen Ernährungslage, der brutalen Behandlung durch das Wachpersonal, der immensen Arbeitsanstrengungen. Frauen und Männer aus u.a. Belgien, Frankreich, Jugoslawien, den Niederlanden, Polen, Italien, das Gros indes aus der damaligen Sowjetunion, die als „minderwertige Ostarbeiter“, so Weiß, noch weitaus schlechter behandelt wurden als die Zwangsarbeiter anderer Nationen.
Zwangsarbeit – meist unter unerträglichen Bedingungen
„Unter Zwang und Androhung drastischer Strafen seien sie alle „zum Arbeitseinsatz ins Deutsche Reich deportiert worden“. In Betrieben, die für den Zweiten Weltkrieg wichtig waren, mussten sie Zwangsarbeit leisten - meist unter unerträglichen Bedingungen: Bei oft zwölf Stunden harter Arbeit gab es häufig nur Brühsuppen und hartes Brot zu essen, erläutert Weiß. Untergebracht waren die damals über 10.000 Zwangsarbeiter in Hattingen dabei in Gemeinschafts-, Baracken- und Massen-Wohnlagern.
Stichwort: Volkstrauertag
Der Volkstrauertag ist seit den 1920er-Jahren ein staatlicher Gedenktag. Eingeführt wurde er ursprünglich durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zum Gedenken an Millionen Opfer des Ersten Weltkrieges.
Heutzutage wird am Volkstrauertag an die Kriegstoten und Opfer von Gewaltherrschaft erinnert.
Der Volkstrauertag liegt immer am Sonntag vor dem Totensonntag – in diesem Jahr am 14. November. Neben der Trauer soll der Volkstrauertag 2021 auch ein Symbol für Frieden und Versöhnung sein.
Auch Maria Hoptinez, die 1942 als gerade einmal 20-Jährige nach Deutschland verschleppt und bis zum Kriegsende 1945 in der Maschinenfabrik und Metallgießerei Pleiger in Buchholz (damals noch Teil des Amtes Blankenstein) eingesetzt wurde, erlitt ein solches Schicksal. Bei ihrem Besuch 2003 in Hattingen habe sie erzählt, dass sie aufgrund der unzureichenden Ernährung abends und nachts bei Bauern in der Umgebung zusätzlich habe arbeiten müssen, um nicht zu verhungern, erinnert sich Stadtarchivar Weiß. Den schlimmsten Lebensumständen zum Trotz aber überlebte die Ukrainerin ihre Zeit in Hattingen – anders als ihre Freundin und 355 andere Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Alles tun, um das Schicksal der Zwangsarbeiter in Hattingen weiter zu erforschen
Intensiv auseinandergesetzt habe sich Hattingen dabei mit deren aller Schicksal, so Thomas Weiß. Angestoßen durch die im Jahr 2000 gegründete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädigung von Zwangsarbeit verabschiedete Hattingens Stadtrat am 21. Juni 2000 eine Resolution, in der sich die Stadt zu ihrer Geschichte und zur politischen Verantwortung im Hinblick auf die Beschäftigung von Zwangsarbeitern bekennt. Und das Stadtarchiv wurde aufgefordert, „alles zu tun, um das Schicksal der Zwangsarbeiter in Hattingen mit Hilfe der Bürgerinnen und Bürger weiter zu erforschen und zu dokumentieren“.
Die Ergebnisse der fast dreijährigen Nachforschungen von Thomas Weiß wurden 2003 dann in einem Kooperations-Ausstellungsprojekt von Industrie- und Stadtmuseum der Öffentlichkeit präsentiert. Es gibt ein Buch, regelmäßige Veranstaltungen und Stadtführungen zum Thema und bis heute Besuche ehemaliger „Arbeitssklaven“ in Hattingen. Höhepunkt: der Besuch von Maria Hoptinez und zehn weiteren ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Ukraine und den Niederlanden im Sommer 2003.
Zwischenzeitlich waren Namenstafeln Verstorbener verschwunden
Zwar stellte der Heimatvereinsvorsitzende Lars Friedrich 2014 einen „unangemessenen Umgang“ mit dem Schicksal der hiesigen Zwangsarbeiter fest, als ihm auffiel, dass insgesamt 62 Namenstafeln Verstorbener Zwangsarbeiter auf dem städtischen Friedhof an der Waldstraße und dem katholischen Friedhof an der Blankensteiner Straße fehlten. Doch sind diese an der Waldstraße längst wieder komplett erneuert, die an der Blankensteiner Straße zumindest überwiegend, sagt Stadtsprecherin Susanne Wegemann. Und: Wegen der drei noch fehlenden Tafeln von niederländischen Zwangsarbeitern und acht Tafeln polnischer Zwangsarbeiter ebendort stehe die Stadt zum Datenabgleich noch im Austausch mit den jeweiligen Botschaften.
Dass Hattingen „vorbildlich sei im Umgang mit diesem dunklen Flecken der Geschichte, findet nicht nur deswegen Stadtarchivar Thomas Weiß. „Sondern weil wir uns dem Thema Gräuel der NS-Zeit immer wieder stellen. Bis heute.“
Dies übrigens hat anno 2003 auch Maria Hoptinez konstatiert, die damals noch einmal aus ihrem Wohnort Wolnowacha in der Region Donezk in der heutigen Ukraine nach Hattingen anreiste – gegen das Vergessen.
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