Gelsenkirchen. Blindgänger sind tödliche Relikte aus dem Krieg. Ihre Entschärfung ist aufwendig und teuer. Hier ist das Risiko am größten in Gelsenkirchen.
- Bombenteppich von mehr als 400.000 Sprengkörpern legt sich im Krieg über Gelsenkirchen
- Blindgänger-Risikogebiete: Auf drei Industriestandorte hatten es die Bomberstaffeln abgesehen
- Blindgänger-Fund – und wer zahlt? Die Beseitigung kann bis zu 100.000 Euro kosten
Im Zweiten Weltkrieg fielen Millionen von Bomben auf Deutschland – viele davon explodierten allerdings damals nicht. Noch heute müssen die Blindgänger aufwendig entschärft werden. Auch Gelsenkirchen wurde mit einem tödlichen Bombenteppich überzogen. Die Folgen sind immer wieder spürbar – zuletzt machte die wohl größte Evakuierungsaktion in der Geschichte der Emscherstadt Schlagzeilen: Als am 11. Mai eine US-amerikanische Fliegerbombe im Stadtsüden erfolgreich entschärft wurde, mussten mehr als 7000 Menschen zuvor in Sicherheit gebracht werden. Eine logistische Mammutaufgabe.
418.526 niedergegangene Bomben auf Gelsenkirchen – ohne Blindgänger
Man muss kein Experte sein, um vorauszusagen, dass diese Aufgabe noch Generationen beschäftigen wird. Eine gigantisch anmutende Zahl kann dazu Daniel Schmidt liefern. Der Leiter des Institutes für Stadtgeschichte zeigt auf ein Dokument. Darauf steht: Niedergegangene Bomben (ohne Blindgänger) insgesamt: 418.526.
„Gelsenkirchen hat dabei zunächst noch Glück gehabt“, sagt der Historiker. Die Stadt an der Emscher sei von den Alliierten während der „Battle of the Ruhr“, einer Serie von Großangriffen auf das Ruhrgebiet im Frühjahr und Sommer 1943, zunächst nicht so schwer getroffen worden wie eigentlich geplant. Schlechte Wetterbedingungen in den Angriffsnächten und technische Schwierigkeiten bei der Ortung führten dazu, dass Nachbarstädte wie Bochum oder Essen noch mehr von der hochexplosiven Fracht der Bomber abbekamen. Im Laufe des Krieges verbesserten die Gegner von Hitler-Deutschland aber ihre technischen Möglichkeiten, rund 363.000 Brand- und 55.000 Sprengbomben regneten zwischen Mai 1940 und März 1945 auf die Stadt herab – mancherorts wurden ganze Quartiere regelrecht dem Erdboden gleichgemacht.
Blindgänger-Risiko an drei alten, kriegswichtigen Industriestandorten besonders hoch
„Im Visier der alliierten Bomberstaffeln standen vor allem die kriegswichtigen Betriebe“, erklärt Daniel Schmidt. Ergo ist hier das Blindgänger-Potenzial besonders hoch. Insbesondere zum Ende des Krieges hin, liefen die Sirenen heiß, von den 2820 Fliegeralarmen in Gelsenkirchen entfielen rund 2000 auf die Jahre 1944 und 1945. Insgesamt gab es 184 Luftangriffe, davon allein 82 in den letzten beiden Kriegsjahren. Über 3000 Menschen starben, 600 davon allein im letzten Kriegsmonat.
Solche Ziele waren beispielsweise die beiden Hydrierwerke in Horst und Scholven, aus Kohle wurde dort Flugbenzin für die Luftwaffe der Wehrmacht hergestellt. Einen beträchtlichen Teil der deutschen Flugzeugtreibstoff-Produktion mit einem Schlag zu vernichten, war den Alliierten daher besonders wichtig. Rund 45.000 Bombenabwürfe waren in den beiden, flächenmäßig großen Stadtteilen die Folge. Diese und noch mehr Informationen sind auch hier in der Stadtchronik von Gelsenkirchen zu finden.
Industrie in Schalke mit 117.000 Bomben zerstört, Bulmke und Hüllen mit 60.000
Fast dreimal so viele Bomben – 117.067 an der Zahl – hat der vergleichsweise kleine Stadtteil Schalke abbekommen – kein anderer hat eine höhere Bombendichte pro Hektar (siehe Grafik). Ähnliches gilt für Bulmke und Hüllen (zusammen etwa 60.000 Bomben) – zwei weitere Hauptziele der Allianz gegen Nazi-Deutschland. Schwerpunkt war „vor allem der Industriegürtel mit seinen Metallbetrieben rechts und links der heutigen Berliner Brücke“, so Schmidt weiter. Die Mannesmann-Röhrenwerke, die Drahtproduktion der Gutehoffnungshütte oder etwas weiter nördlich die Chemische Industrie Schalke waren dort ansässig.
Oder der Schalker Verein weiter westlich. Auch Zechen waren wichtige Ziele, etwa Consol, deren Schachtanlagen 1/6 direkt am Schalker Markt oder 2/7 an der Magdeburger Straße lagen. Hinzu kam 3/4/9 in Bismarck. Dort, wo heute am Stölting Harbour Menschen Freizeit und Natur genießen, stand früher das Kraftwerk der Zeche Graf Bismarck.
In den Industrieanlagen wurden unter anderem Munition und Bauteile für verschiedene Waffensysteme, beispielsweise Kanonenrohre, hergestellt. Und ohne Kohle kein Stahl – die Standorte waren also immanent wichtig für Hitlers Kriegsmaschinerie, heute sind es allesamt Risikogebiete. Das zeigen auch die jüngsten Evakuierungen.
Die letzten Blindgänger-Funde in Gelsenkirchen:
- Bombenentschärfung im Bulmker Park - 4600 Menschen evakuiert
- Bombenentschärfung in Kleingartenanlage – 6500 Menschen in Sicherheit gebracht
- Bombenentschärfung am Sellmannsbach – größte Evakuierungsaktion – 7200 Menschen betroffen
Innenministerium NRW: 2022 wurden 239 Bomben geräumt, 2021 sogar 278
Nach aktuellen Schätzungen (Stand 2022) liegen bundesweit noch circa 100.000 bis 300.000 Tonnen Blindgänger im Boden. Jährlich müssen in Deutschland circa 5.000 Bomben geräumt werden. Im Haushalt 2020 stellte der Bund für die Kampfmittelbeseitigung 32 Millionen Euro zur Verfügung.
Das Land NRW hat für die Beseitigung von Kampfmitteln 2021 und 2022 jeweils 21 Millionen Euro aufgewendet. Wie das Innenministerium mitteilt, wurden im vergangenen Jahr 239 Bomben entschärft und geräumt, im Jahre davor waren es sogar 278 Blindgänger. Je nach Aufwand stehen am Ende einer Entschärfung nach Angaben der für die Räumung der Kampfmittel zuständigen Bezirksregierung Arnsberg zwischen 2000 Euro und 100.000 Euro auf der Rechnung.
Bombenfund – und wer zahlt die Rechnung? Kosten betragen bis zu 100.000 Euro
Und wer zahlt das? Sofern sich der Bombenfund auf einer Liegenschaft des Bundes befindet, ist die Kostenfrage schnell geklärt. Dann trägt der Bund die Kosten für sämtliche Maßnahmen rund um die Entschärfung des Sprengkörpers. Ansonsten ist das Entschärfen und Beseitigen von alten Fliegerbomben in der Regel Ländersache.
Wird die Bombe auf einem privaten Grundstück gefunden, muss der Besitzer für die Kosten der Beseitigung aufkommen. Denn von staatlicher Seite her werden nur die Kosten zur „Beseitigung einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben“ übernommen. Das geht aus dem aktuellen Runderlass zur „Kostentragung in der Kampfmittelbeseitigung“ des NRW-Innenministeriums hervor. Somit muss beispielsweise ein Bauherr die sogenannten „Beseitigungsarbeiten“ tragen. Darunter fallen die Suche, die Freilegung sowie die Erdarbeiten. Die Bergungskosten sowie die finanziellen Aufwände für die Entschärfung, den Abtransport und die Vernichtung werden vom Staat getragen.
675.000 Tonnen Sprengstoff auf NRW abgeworfen
Schätzungen gehen nach Angaben der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg davon aus, dass etwa 675.000 Tonnen Sprengstoff zwischen 1939 und 1945 auf NRW abgeworfen wurden. Man rechne ganz grob mit etwa 3 bis 15 Prozent Blindgängern. Hinzu kämen noch die Munitionsreste aus Bodenkämpfen.
2022 sind in NRW insgesamt 5731 Kampfmittel geräumt worden, dazu Zählen Bomben aller Art, Granaten, Minen, Handgranaten, Sprengmittel, Infanteriemunition und Munitionsteile. Nettoexplosivmasse: 33,4 Tonnen.
Die Luftbilder, auf die die Bezirksregierung Arnsberg zurückgreift, unterliegen dem „British Crown Copyright“ und können ausschließlich zur Luftbildauswertung genutzt werden. Eine Einsichtnahme oder Bereitstellung der Bilder für Dritte ist nicht möglich. Es sind rund 330.000 Aufnahmen.
Für die Entschärfung einer Bombe sind verschiedene Fachkräfte im Einsatz: Polizei, Feuerwehr und das Sprengkommando. Schließlich muss die Fundstelle weiträumig abgesperrt werden und der Kampfmittelbeseitigungsdienst agieren. Hunderte, oftmals auch Tausende Menschen müssen zudem aus dem Gefahrenbereich evakuiert werden.