Gladbeck. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, zuständig für Gladbecker, sieht einen offeneren Antisemitismus als früher. Ein Auslöser: soziale Medien.
Mehr als 2300 antisemitische Straftaten deutschlandweit haben die Behörden im Jahr 2020 in ihre Statistiken aufgenommen. Das sind etwa 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit ist ein neuer Höchststand seit Beginn der Erfassung judenfeindlicher Taten und Übergriffe erreicht. Die Corona-Pandemie, so konstatieren Fachleute, spiele bei dieser Entwicklung eine bedeutende Rolle. Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, beobachtet, dass das gesellschaftliche Klima rauer wird.
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Sie bemerkt: „Es sind immer die gleichen Vorurteile. Die Menschen suchen nach einem Schuldigen für das Unglück.“ Dieses besagte Unglück kann in vielerlei Gestalt auftreten. So ließ im Frühjahr der Nahost-Konflikt die Gemüter explodieren. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, der auch Gläubige aus Gladbeck angehören, sagt: „Der 12. Mai war die schlimmste Spitze!“
Antisemitische Hass-Parolen machten bundesweit Schlagzeilen und lösten Entsetzen aus
Bundesweit hatten antisemitische Hass-Parolen, die etwa 180 Menschen vor der Synagoge in Gelsenkirchen auf einer nicht genehmigten Demonstration grölten, Schlagzeilen gemacht. „Kindermörder Israel“, wurde unter anderem skandiert. Der Staatsschutz nahm die Ermittlungen gegen 15 Teilnehmer auf. Dem 30-jährigen Deutsch-Araber Ali S. wurde der Prozess gemacht. Das Gericht urteilte: drei Jahre und neun Monate Haft wegen Volksverhetzung.
„Dieser Aufmarsch war der absolute Tiefpunkt. Dass man die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen für den Nahost-Konflikt verantwortlich macht, ist für uns unbegreiflich“, sagt Neuwald-Tasbach, „wir leben in diesem Land und wollen Vorbild sein.“ Antisemitische Vorfälle machen sie „traurig“. Dabei handele es sich nicht immer um große, aufsehenerregende Ereignisse, vieles geschehe im Alltag. Zu nennen wären beispielhaft verbale Spitzen und Sachbeschädigungen, die häufig im Dunkeln bleiben. Die Gemeinde-Vorsitzende erzählt: „Manchmal ergibt sich eine Situation, in der jüdische Kinder sich ihres Glaubens bekennen und dann von Mitschülern beschimpft werden.“
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Annette Achenbach, Sprecherin im Polizeipräsidium Recklinghausen, blickt auf die Lage in Gladbeck: „Die gute Nachricht ist: In den vergangenen drei Jahren hatten wir hier eine einzige antisemitische Straftat.“ Auf eine Garagenwand an der Berliner Straße hatte seinerzeit jemand diffamierende Schriftzüge und einen Davidstern gesprüht – ein Akt von Sachbeschädigung, der den Staatsschutz wegen der antisemitischen Aussage auf den Plan rief.
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In diesem Fall wurde Anzeige erstattet. Aber, und das ist die schlechte Nachricht: „Wir können nur über die Taten sprechen, die wir kennen.“ Und das seien längst nicht alle. Sicher, Hakenkreuz-Schmierereien an der Fußgängerbrücke über die B 224 im Jahr 2018 lassen sich zum Beispiel kaum übersehen. An hetzerischen Aufklebern auf Sitzbänken gehen viele Menschen hingegen achtlos vorüber. Achenbach erläutert: „Grundsätzlich kann jeder Anzeige erstatten – auch bei einem Graffito an einer fremden Hauswand. In der Regel macht das der Hausbesitzer oder Mieter selbst, da er ja eigentlich der ,Geschädigte’ ist – also er vermutlich für die Beseitigung aufkommen muss.“ Wenn Polizeistreifen Straftaten entdecken, schreiben sie eine Anzeige.
In Zusammenhang mit der Corona-Krise ploppen, so Neuwald-Tasbach, „alte Stereotype“ auf. Eine der Behauptungen: „Juden haben das Virus in die Welt gesetzt.“ Anfeindungen habe es immer schon gegeben, doch die Qualität habe sich durchaus verändert: „Früher waren Äußerungen mehr subtil hinter vorgehaltener Hand. Man darf heute deutlich seine Meinung sagen, Vorurteile formulieren und verbreiten.“ Sie wünscht sich, dass „man mehr über das nachdenkt, was man in den sozialen Netzwerken tut“. Denn: „Was man dort schreibt, verletzt Menschen.“ Zumal die Frage im Raum stehe: „Sind diese antisemitischen Aussagen mit dem Grundgesetz vereinbar? Was ist mit dem Recht auf freie Religionsausübung?“
Antisemitismus wird sichtbarer
Volksverhetzung, Beleidigung und Beschimpfung, körperliche Attacken, Sachbeschädigung: Antisemitische Straftaten haben viele Facetten. Allerdings werde längst nicht jede Tat gemeldet, so Annette Achenbach, Sprecherin im Polizeipräsidium Recklinghausen. Sie unterstreicht: „Es ist wichtig, dass Anzeige erstattet wird. Egal von wem!“
Stichwort: soziale Netzwerke. Durch sie werde zu einem hohen Maße Antisemitismus in die breite Öffentlichkeit getragen. Auf diesen Kanälen bekommen Ressentiments eine Sichtbarkeit. Judith Neuwald-Tasbach stellt fest: „Schnell hat man in den sozialen Netzwerken Vorurteile gelikt und weiter verbreitet.“
Proteste gegen die Corona-Maßnahmen hätten erheblich dazu beigetragen, antisemitische Vorurteile zu verbreiten, so Gideon Botsch, Leiter der Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum der Universität Potsdam. Er erkennt, wie Judith Neuwald-Tasbach, antisemitische Stereotype in den , die auf Demonstrationen und online verbreitet werden.
Judith Neuwald-Tasbach sieht jedoch auch Lichtblicke. Sie freut sich darüber, dass der Hass-Ausbruch im Mai eine Gegenreaktion entfesselte: Solidaritätsbekundungen. „Die Mehrheit der Menschen ist auf einem guten Weg. Sie schätzen einander und sind neugierig auf einander.“ Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde verweist auf den Talmud, eine der wichtigsten Schriften des Judentums: „Der Satz ist für uns Juden grundlegend, aber er gilt für alle Menschen: Jeder soll sich so fühlen, als ob er für die ganze Welt verantwortlich wäre, und den Frieden wahren.“