Gelsenkirchen. Schulverweigerung, das hat selten mit „kein Bock“ zu tun, weiß man in Gelsenkirchens Schulwerkstatt. Lara hat uns ihre Geschichte erzählt.
Als Lara zur Welt kam, war ihre Familienwelt noch in Ordnung. Die Eltern freuten sich über den Zuwachs. Doch bald wurden die gesundheitlichen Beschwerden und Beeinträchtigungen der Mutter immer stärker. Der Vater kümmerte sich neben der Arbeit um seine Frau und die eigene Mutter, das Kind sich zunehmend um sich selbst. In der Grundschule wurde Lara gemobbt, kam nicht in die Klassengemeinschaft, auch die Klassenlehrerin scheint sie nicht zu mögen. Sie sei täglich von Klassenkameraden verprügelt worden, erinnert Lara sich.
Die Mutter beschloss, dass Lara die Grundschule wechseln muss; Aber es half nichts. Auch hier ließ man sie nicht in die Klassengemeinschaft. Sie sei von einem Klettergerüst gestoßen worden und habe dabei eine schwere Kopfwunde erlitten, Klassenkameraden hätten sie in den Rücken getreten und ihr die Hände gebrochen. Den Lehrern erzählten die anderen, man habe sich nur gegen Lara gewehrt, sei einer von Lara Angegriffenen zu Hilfe gekommen.
Während Lara erzählt, bearbeitet sie ununterbrochen ihre Finger. Dem Mittelfinger sieht man an einer unnatürlichen Krümmung an, dass ihm Übles wiederfahren sein muss, bei Fingern an der anderen Hand ebenfalls. Wenn Lara längere Zeit mit den Händen arbeiten muss, beginnen die Hände zu schmerzen, erzählt sie. Als es auch an der Gesamtschule später nicht besser wird, Lara immer stärker leidet und die Mutter immer mehr Unterstützung benötigt, beschließen Eltern und Jugendamt, dass Lara in einer Wohngruppe besser aufgehoben wäre.
Wohngruppe entpuppt sich als blanker Horror für Lara
Die Wohngruppe aber ist 25 Kilometer von daheim entfernt, ein Schulwechsel steht an, und das mitten im Coronajahr 2021. Es gibt wenig Chancen, sich mit anderen in der Schule anzufreunden. Die Wohngruppe entpuppt sich als der pure Horror für Lara. Sie berichtet von Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen - mit 12 Jahren. Ihre Berichte werden nur bedingt ernst genommen, sie landet schließlich wegen Depressionen und Essstörungen in der Jugendpsychiatrie in Marl. „Aber die haben mir auch nicht geholfen.“
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Doch danach darf sie die Wohngruppe wechseln, kommt zurück nach Gelsenkirchen, kann zweimal die Woche ihre Mutter besuchen, deren Erkrankung stark fortgeschritten ist.
Panikattacke in der Schule: Der letzte Schultag endete im Sanitätsraum
Als erstes ging sie hier auf eine Realschule. Doch es gelang ihr nicht, Fuß zu fassen. Im Gegenteil, der Schulbesuch war für sie mittlerweile unerträglich. Zu laut, zu viele Menschen, es kam zu Panikattacken. „Ich bin jeden Tag hingegangen, hab es täglich versucht. Aber nach ein oder zwei Stunden wurde die Panik so schlimm, dass ich gehen musste“, schildert sie rückblickend. Ihr letzter Schulbesuch endete im Sanitätszimmer der Schule, weil sie aufgrund einer Panikattacke nicht mehr gehen konnte. [Lesen Sie dazu: Wie Gelsenkirchens Schülerwerkstatt den Weg zum Lernen ebnet]
Heute versucht es Lara mit dem Lernen in der Schülerwerkstatt der Jugendsozialeinrichtung Förderkorb. Acht Plätze für Jugendliche ab mindestens 13 Jahren gibt es hier, die wieder ans Lernen herangeführt werden, an einen regelmäßigen Alltag. Wobei Lernen bei Lara gar nicht das Problem ist: „Sie lernt gut, ist in Mathe richtig fit und ist zuverlässig“, schildert Marieke Spieß, Projektleiterin der Schülerwerkstatt Laras Entwicklung. „Sie hat Hochs und Tiefs, aber mit Gesprächen können wir oft helfen. Sie wird ihren Abschluss machen können, davon bin ich überzeugt“, ergänzt Spieß.
Bei Jugendlichen wie Lara ist die Lernbereitschaft nicht das Problem
Lara weiß, wofür sie lernt, ihre Ängste bekämpft, denn sie hat einen Traum, eher sogar einen Plan: Sie will eine Ausbildung zur Bürokauffrau machen, arbeiten - und sobald sie genug Geld gespart hat, nach Australien auswandern. Ihr Englisch ist schon gut und damals, als die Mutter noch gesund war, ist sie mit ihren Eltern jeden Sommer in den Urlaub gefahren.
So gut wie bei Lara, die bald 15 Jahre wird, funktioniert es nicht bei allen in der Schülerwerkstatt. Sara (16) zum Beispiel ist am Ende auch nicht mehr in ihre Gesamtschule gegangen, weil sie gemobbt wurde. Von einem Lehrer, der sie nach einer gemeinschaftlichen Aktion gezielt immer wieder angegriffen habe, aber auch von Mitschülerinnen. Im Gegensatz zur eher couragiert auftretenden Lara spricht sie leise, als sie ihre Geschichte erzählt. Auch sie blieb der Schule immer häufiger fern, kann morgens noch immer nicht aufstehen, wird von keinem Telefon und keinem Wecker wach. Die Eltern sind beide früh zur Arbeit aus dem Haus. Und ihre Anreise zur Schülerwerkstatt mit dem öffentlichen Nahverkehr ist lang: 90 Minuten.
Auch in der Schülerwerkstatt der Katholischen Jugendsozialarbeit (KJS) kommt sie so viel zu häufig deutlich zu spät. Ihr Fehlzeitkonto ist so voll, dass sie nicht bleiben kann. Die Warteliste anderer Jugendlicher, die hier eine Chance sehen, die restliche Schulzeit bis zum ersten Abschluss zu schaffen, ist lang. Sie wird deshalb in Kürze an ihre alte Schule zurückgehen. Zum Glück hat die Anmeldung für einen Schulplatz am Berufskolleg funktioniert. Die persönliche Begleitung für Sara über die Beratungsstelle der KJS wird dabei weiterlaufen, um sie auf diesem Weg zu unterstützen.