Gelsenkirchen. Psychiatrisch stationär versorgt werden Gelsenkirchener bis 18 Jahre in Marl. Was in der Stadt selbst fehlt, ist aber eine Institutsambulanz.
Grundsätzlich gibt es genug stationäre Plätze für Gelsenkirchener Kinder und Jugendliche mit psychiatrischen Erkrankungen – sagt Dr. Claus Rüdiger Haas, der Ärztliche Direktor der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Marl. Die Klinik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) ist Pflichtversorger für alle Gelsenkirchener Betroffenen – außerdem auch für Bottrop, Münster, Bochum, Herne, die Kreise Borken, Coesfeld, Steinfurt und Teile des Kreises Recklinghausen. „Aber der Hauptanteil der Patientinnen und Patienten kommt aus Gelsenkirchen“, erklärt Haas.
Hochsaison im Herbst und Winter, im Sommer kurze Wartezeiten
Im Sommer seien die Wartezeiten auf Therapieplätze jenseits von Notfällen relativ kurz mit drei bis vier Wochen. Im Herbst und Winter können es allerdings je nach Dringlichkeit auch mal vier Monate sein, so Haas. Auch wenn er die 119 stationären Plätze in seiner Klinik unterm Strich für ausreichend hält, sieht er auch Defizite. „Dass eine Stadt wie Gelsenkirchen keine eigene psychiatrische Institutsambulanz für Kinder und Jugendliche hat, ist ein Skandal. Eine solche einzurichten, liegt zwar in der Hand der Kassenärztlichen Vereinigung. Aber die Einrichtung einer solchen Ambulanz müsste auch von den niedergelassenen Kollegen unterstützt werden“, sagt er.
Die Zusammenarbeit mit den Gelsenkirchener kinder- und jugendpsychiatrischen Ärzten sei zwar gut, die große Praxis Uzelli-Schwarz-Rawert in Buer als wichtigste Anlaufstelle biete gut und ausreichend Notfalltermine an. Knapp werde es allerdings seiner Einschätzung nach mit den notwendigen folgenden Therapieterminen im ambulanten Bereich: „Mit einem Termin je Woche kann schon viel erreicht werden. Aber häufig gibt es nur Termine einmal im Monat. Das ist zu wenig, vor allem, wenn dann auch noch ein Termin ausfällt.“
Jede Nacht kommen drei bis vier Notfälle ins Haus
„In den letzten Jahren ist der psychiatrische Behandlungsbedarf bei Kindern und Jugendlichen deutlich gestiegen. Auch die Notfälle sind betroffen. Wir haben jede Nacht drei bis vier Notfallversorgungen, das ist für unser Personal eine extreme Herausforderung. Wir haben alle Stellen mit qualifizierten Fachkräften besetzt, die uns von den Krankenkassen zugestanden werden. Aber für die hochbelastende Arbeit in der Notfallversorgung, die wir rund um die Uhr 365 Tage im Jahr vorhalten, bräuchten wir eigentlich mehr Personal. Aber dafür sind keine Vorhaltepauschalen vorgesehen“, berichtet Haas.
„Nächtliche Notfälle wegen Gewalt oder akuter Selbstmordgefahr kommen häufig aus Wohngruppen der Jugendhilfe, die wegen Personalmangel an ihre Grenzen kommen. Auch die Notfälle aus Familien mit schwierigem Umfeld haben deutlich zugenommen. Die Familien werden nicht stabiler“, weiß der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wesentlich sei die gute Vernetzung der Klinik, die Zusammenarbeit mit den Niedergelassenen, dem Jugendamt, der Jugendhilfe und auch mit der Tagesklinik für Kinder und Jugendliche am Bergmannsheil. „Wir arbeiten konstruktiv zusammen, ohne engen Austausch geht es nicht. Aber das Jugendamt leidet unter Personalmangel bei gleichzeitig steigendem Bedarf, zudem sind viele junge Kollegen im Team noch lernend.“
Keine Wartezeit bei Essstörungen und Schulabstinenz
Dramatisch zugenommen hätten Essstörungen: „Da haben wir 50 Prozent mehr heute“, schätzt Haas. „Bei Magersucht nehmen wir sofort auf, da gibt es keine Wartezeiten bei uns, das wäre zu gefährlich. Da wir eine große Klinik sind, können wir priorisieren, flexibel reagieren. Auch bei akuter Schulabstinenz warten wir nicht. Wenn jemand wenige Wochen am Stück nicht in die Schule geht, kann man noch schnell reagieren. Das ist für uns eine Art Notfall. Schule ist der entscheidende Entwicklungsort für Kinder. Und da greifen wir ein, bevor sich über die Jahre schwere Störungen entwickeln können“, erklärt Haas.
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Die anderen beiden großen Themen in der Klinik sind Depressionen und Ängste. Sucht ist ein weiteres. „Die Vielfalt bei Suchtmitteln ist extrem gestiegen. Früher war es vorwiegend Cannabis-Missbrauch, aber heute gibt es viel mehr. Neben den härteren Drogen sind vor allem Benzodiazepine und Codeine weit verbreitet, auch als Einstiegsdrogen. Auch bei Suchtproblemen vermeiden wir lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz.“
Etwas weniger Zeitdruck gebe es laut Haas bei Depressionen, die oft bereits seit Jahren bestehen, sowie bei Zwangsstörungen und Selbstverletzungen wie dem „Ritzen“. Verhaltensauffälligkeiten unterschiedlichster Ausprägung bis hin zu Gewaltausbrüchen sind ebenfalls häufige Gründe für stationäre Aufenthalte.
Behandlungsbedarf wegen Auffälligkeiten schon bei Kleinkindern
Verhaltensauffälligkeiten nehmen selbst bei Kleinkindern zu. Therapiert werden in der Marler Klinik Patientinnen und Patienten ab vollendetem ersten Lebensjahr. Bei ihnen kann ein Elternteil mit in der Klinik sein. Wenn Einjährige psychiatrischen Behandlungsbedarf haben, hängt das in der Regel mit dem Umfeld zusammen. „Oft ist ein Elternteil selbst psychisch krank, depressiv. Betroffene Kinder zeigen häufig keinerlei Interesse an ihrer Umwelt oder sie sind kaum zu bändigen. Diese Kinder sind in ihrer Entwicklung akut gefährdet. Oft leiden sie auch unter der fehlenden Bindung zu den Eltern. Die Eltern unterstützen wir bei Bedarf ebenfalls, vermitteln sie in Therapien. Psychische Erkrankungen fangen nicht erst im Alter von sechs Jahren an“, warnt der Psychiater.
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Es kommen auch Adoptiv- oder Pflegeeltern mit Kleinkindern, die Schlimmes durchlebt haben. Bleibt das Kind in der Ursprungsfamilie, werden die Auffälligkeiten häufig erst in der Kita offensichtlich. „Es gibt Fälle, da haben die Kinder anderen regelrecht ein Stück aus dem Körper gebissen oder anderweitig heftige Aggression gezeigt. Sie werden dann von der Kita suspendiert und kommen zu uns.“ Eine möglichst frühe Therapie, bevor Störungen weiter wachsen, sei daher besonders entscheidend, betont der Experte.
Relativ klein – gemessen an der Zusammensetzung der Bevölkerung – sei der Patientenkreis mit Migrationshintergrund in der Klinik, berichtet Haas. Das gelte auch für Heranwachsende der dritten Generation in Deutschland, trotz wirklich niederschwelligem Zugang zu den Therapieangeboten. „Dabei ist nicht die Sprache das Problem. Wir haben Dolmetscher unter Vertrag für nahezu jede Sprache, die auch in Notfällen erreichbar sind. Es ist eher eine Frage der Akzeptanz psychischer Erkrankungen in der Kultur“, hat Haas festgestellt.
Erscheinungsform der Störung hängt auch vom sozialen Umfeld der Kinder ab
Generell jedoch gebe es psychische Erkrankungen in allen Gesellschaftsbereichen. Lediglich die Erscheinungsform sei unterschiedlich. Während in bürgerlichen Milieus tendenziell eher übertriebenes Perfektionsstreben in Form etwa von Magersucht, Zwängen oder Ängsten vorwiegt, seien in sozial schwächerem Umfeld eher Süchte und Verhaltensstörungen mit Gewalt anzutreffen, bei vernachlässigten Kindern depressive Störungen.
Das Wichtigste ist laut Haas ein frühes Erkennen und Therapieren, um zu verhindern, dass sich über die Jahre schwerste Störungen entwickeln können. Dafür sei ein ausreichendes, verzahntes Therapieangebot im stationären, teilstationären und ambulanten Bereich unverzichtbar. „Der Zugang zu unseren Angeboten ist wirklich niederschwellig und wird von Gelsenkirchenern sehr gut angenommen“, versichert er. Eine ambulante und koordinierende Anlaufstelle in Gelsenkirchen selbst wäre seiner Überzeugung nach dennoch wünschenswert.
Theoretisch darf zwar jeder Gelsenkirchener auch in den Kinder- und Jugendpsychiatrie-Kliniken anderer Städte um Hilfe bitten. Doch die Wahrscheinlichkeit, dort angenommen zu werden, ist angesichts knapper Plätze nicht sehr wahrscheinlich.
Am 12. September, von 18.30 Uhr bis 20 Uhr, findet in der LWL-Klinik Marl-Sinsen ein Haard-Dialog zum Thema Suizidalität, also Selbstmordgefährdung bei Jugendlichen, statt. Zu der Informationsveranstaltung mit Experten für Bürgerinnen und Bürger mit Anregungen zur Unterstützung der Heranwachsenden. Der Eintritt ist frei. Voranmeldungen bitte an Tel. 02365 802-0.