Gelsenkirchen. Sie sollen „sichtbar“ sein: Diese Streetworker dienen als „Identifikationsfiguren“ in Rotthausen. Ihre Arbeit ist Teil einer großen Strategie.

„Wie geht‘s, Awo?“, ruft eine Jugendgruppe den „Uniformierten“ zu. „Wann ist wieder Boxen?“ Karim Ahmed, André del Barrio und Alma-Maria Florea werden im Stadtteil sofort erkannt. Mit ihren blauen Allwetter-Jacken streifen die Awo-Mitarbeitenden seit einigen Monaten durch Rotthausen, als Streetworker, mobile Jugendarbeiter, die sofort wahrnehmbar sein sollen – aber nicht nur von Jugendlichen, auch von alteingesessenen Gelsenkirchenern, die über ihre Probleme im Stadtteil klagen. Das ist neu für Rotthausen. Und es ist ein Wesensmerkmal der groß angelegten neuen Strategie der Stadt „zur Wahrung des sozialen Friedens und Stärkung des Zusammenhalts in Gelsenkirchener Quartieren.“

Neue „Identifikationsfiguren“ für Gelsenkirchen-Rotthausen

Vorgestellt hatte die zuständige Stadträtin Anne Heselhaus das neue Integrationsprogramm im Oktober 2023. „Der soziale Frieden in Gelsenkirchen ist durchaus gefährdet“, sagte sie damals. Mal sind es Müllkippen, mal Ärger über zu viele Schuhe im Treppenhaus, mal die Irritation über gelangweilte Jugendgruppen, die ihre Freizeit „auf dem Bürgersteig“ verbringen – und oft stehen Sprachbarrieren in so einer internationalen Stadt dazwischen. Die Folge: die Probleme werden nicht gelöst, die Fronten verhärten sich.

Ändern soll sich das durch eine deutliche Personalaufstockung in verschiedensten Bereichen (siehe Infobox unten), einer ressortübergreifende „Kräftebündelung“ aller Menschen und Organisationen, die im Stadtteil aktiv sind sowie eine verbesserte, viel gezieltere Bedarfsabfrage – und, vor allem auch, durch mehr „Sichtbarkeit“ in der Nachbarschaft. Eine Schlüsselrolle dabei haben die drei „uniformierten“, aufsuchenden Sozialarbeiter der Awo. Dezernentin Anne Heselhaus nennt sie „Identifikationsfiguren.“

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An diesem Tag in Rotthausen nehmen sie sich viel Zeit, um mit der WAZ durchs Quartier zu ziehen. Rotthausen ist neben Horst (wo die Diakonie federführend ist) Pilotstadtteil für die neue Strategie. Die Hände unzähliger „Netzwerkpartner“ werden an diesem Vormittag geschüttelt – da sind die Ex-Polizisten, die Selbstbehauptungstrainings mit Jugendlichen machen, da ist der DJK TuS 1910 Rotthausen, der Räumlichkeiten für eine neue Hip-Hop-Tanzgruppe zur Verfügung stellen will. Georg Gerecht, Vorsitzender des Bürgervereins, freut sich darüber, „dass Rotthausen jetzt mit vielem Neuen gesegnet ist“, Isabell Scharfenstein, die Leiterin der Mechtenbergschule, über die neuen „Bildungspat:innen“, die bald in ihrer Freizeit vor allem die Lesekompetenz benachteiligter Schüler stärken wollen.

Die Liste der Projekte ließe sich lange fortführen – von geplanten XXL-Outdoor-Schachspielen auf dem Ernst-Käsemann-Platz über Aufräumaktionen à la „GEputzt“ bis zu Familienbesuchen gegen Schulabsentismus, die von Dezernentin Heselhaus als „besonders wichtig“ hervorgehoben werden. Und alles steht unter der Überschrift „GEmeinsam für Rotthausen“. „Es wird aktuell zu viel vom ,wir‘ und ‚die‘ gesprochen“, sagt Heselhaus und meint die Alt-Gelsenkirchener auf der einen und die Zugewanderten auf der anderen Seite. „Aber das führt zur Spaltung. So können wir Stadtgesellschaft nicht denken. Das Zusammenbringen, das ist unser Auftrag.“

Neue Sozialarbeiter halten alle Fäden in Rotthausen zusammen

Die drei Sozialarbeiter sind dabei aktuell wie die „Spinnen im Netz“, sie halten die Fäden im großen Netzwerk zusammen und leiten die Jugendlichen auf der Straße gezielt zu den ganzen Angeboten. „Wir saugen alles von den Netzwerkpartnern auf und nehmen das mit in die aufsuchende Arbeit“, sagt Streetworker André del Barrio. Die vielen Angebote sind also nicht in Stein gemeißelt und sollen bei Bedarf kurzfristig angepasst werden.

Eine Herausforderung für die Awo ist dabei allerdings, dass sie sich erst vor wenigen Wochen von ihrem alteingesessenen Quartierszentrum an der Karl-Meyer-Straße verabschieden musste. Der Eigentümer hat jetzt anderes mit dem Ladenlokal vor, jetzt ist der Wohlfahrtsverband in das Evangelische Gemeindezentrum Rotthausen an der Schonnebecker Straße 25 gezogen. Hier ist die Awo etwas versteckter, dafür hat sie allerdings mehr Platz für die vielen Angebote.

Hier findet man die Awo in Rotthausen jetzt: Im Zentrum der Aufnahme, rechts neben der Kita, befindet sich das Evangelische Gemeindezentrum Rotthausen. Dort macht jetzt auch der Wohlfahrtsverband seine Angebote.
Hier findet man die Awo in Rotthausen jetzt: Im Zentrum der Aufnahme, rechts neben der Kita, befindet sich das Evangelische Gemeindezentrum Rotthausen. Dort macht jetzt auch der Wohlfahrtsverband seine Angebote. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Services | Hans Blossey

Einen kleinen Spaziergang machen die Streetworker an diesem Vormittag mit der WAZ auch zu einigen „Problemhäusern“ im Stadtteil. Jüngst hat die Stadt es geschafft, hier in Rotthausen vier verfallenen Häuser aufzukaufen – so wie es im Rahmen der millionenschweren „Zukunftspartnerschaft“ mit dem Land NRW in den nächsten Jahren weiterhin im großen Stil geschehen soll. Auch hier sollen die uniformierten Quartierskenner eine wichtige Aufgabe übernehmen und Hinweise geben, bei welchen Straßen und Immobilien es sich besonders lohnt, aktiv zu werden. Das ist dann das, was die Stadt meint, wenn sie die „Interdisziplinarität“ bei der Gesamtstrategie als Besonderheit hervorheben will.

Bezirksbürgermeister: „Das ist die einzige Chance, die wir haben“

Schrotthäuser kennt auch der örtliche Bezirksbürgermeister Thomas Fath (SPD) zur Genüge. Er wohnt sogar direkt neben einem. Als die Streetworker ihn für ein kleines Gespräch treffen, da hat Fath einen Zettel mit dabei. Darauf stehen einige markante Zahlen wie diese: Die Zahl der Nichtdeutschen in Rotthausen hat sich von 19 Prozent im Jahr 2014 auf 33 Prozent im Jahr 2023 verändert. So ein plötzlicher Zuzug, das sei nun einmal eine sehr herausfordernde Entwicklung für einen Stadtteil, „weil natürlich Konflikte entstehen.“ Darauf entsprechend zu reagieren, dafür sei es eigentlich „nicht fünf vor, sondern schon fünf nach zwölf“. Eine Strategie, wie sie jetzt in Rotthausen und Horst entsteht, das sei aber die einzige Möglichkeit, um die Situation zu befrieden. „Auch wenn ich noch skeptisch bin: So etwas macht Hoffnung“, sagt er. „Nur so kann es gehen. Eine andere Chance haben wir nicht.“

Das Awo-Team sucht weitere Ehrenamtliche, die bei den zahlreichen Projekten im Rahmen von „GEmeinsam für Rotthausen“ mitwirken wollen. Insbesondere für das „Bildungspat:in“-Projekt werden noch viele Engagierte gesucht. Kontakt:gemeinsam@awo-gelsenkirchen.de

Neue Stellen für Gesamtstrategie

Die neue Strategie „zur Wahrung des sozialen Friedens und Stärkung des Zusammenhalts in Gelsenkirchener Quartieren“ soll durch 29, teils komplett neu geschaffene, teils neu ausgerichtete Stellen mit Leben gefüllt werden. Dazu gehören jeweils fünf neue Mitarbeitende des Kommunalen Ordnungsdienstes (KOD) für die Bezirke West und Süd und jeweils drei Streetworker-Stellen für Horst und die Awo. Die Sozialarbeiter sind seit Sommer 2023 im Einsatz, die KOD-Stellen werden sukzessive besetzt.

Gerade in der Ausschreibungsphase sind eine Stelle für das Quartiersmanagement in Horst und zwei halbe Stellen für „Konfliktmediatoren“. Diese sollen jeweils in Horst und Rotthausen dafür sorgen, dass Streitereien in der Nachbarschaft friedlich gelöst werden. Auch besetzt werden soll eine „Gemeinwesenstelle“ im Sozialreferat, die sich mit der Koordinierung des Projekts befassen soll. Neun bestehende Stellen im städtischen Integrationsreferat wurden nach Angaben der Stadt so ausgerichtet, dass sie sich schwerpunktmäßig in der neuen Strategie einbringen. Gesteuert wird die Arbeit von einer Lenkungsgruppe.