Gelsenkirchen. 1471 Schülerinnen und Schüler lernen in Gelsenkirchen in Internationalen Förderklassen. Es ist ein Fördersystem; eines voller Stolpersteine.
107 Internationale Förderklassen (IFÖ-KLassen) gibt es an Gelsenkirchener allgemeinbildenden Schulen aktuell, mit 1471 Schülerinnen und Schülern. 39 IFÖ-Klassen an Grund-, 68 an weiterführenden Schulen. Acht davon sind Alphabetisierungsklassen. In diesen Klassen lernen Zugewanderte und Flüchtlinge aus aller Welt Schreiben und Lesen – im Alter von zehn, aber zum Teil auch 14 Jahren. Alle Alphabetisierungsklassen sind an weiterführenden Schulen angesiedelt. Ein Schuljahr ist für das Lesen und Schreiben lernen vorgesehen, unterrichtet wird vor allem Deutsch.
Drei Jahre brauchen Kinder der Alpha-Klasse meist bis zum Wechsel in die Regelklasse
Nach der Alphabetisierungsphase wechseln die Kinder der „Alpha-Klassen“ in „normale" IFÖ-Klassen. Im Regelfall lernen sie hier zwei Jahre, vorwiegend Deutsch, ein wenig Mathe und Technik, wenn möglich auch Kunst und Sport. Der Wechsel in Regelklassen läuft an Gesamtschulen meist durch Mehrklassenbildung, wofür Regelklassen geteilt werden, um die IFÖ-Schüler nicht in einer Klasse zu separieren.
Die WAZ hat Schulen befragt, an denen seit Jahren IFÖ-Klassen installiert sind. Achim Elvert, Leiter der Gesamtschule Ückendorf mit aktuell fünf IFÖ- plus zwei Alpha-Klassen, kennt die Probleme mit dem System. „Die IFÖ-Klassen basieren ja noch auf der alten Regelung der Auffangklassen, die damals für Gastarbeiterkinder eingerichtet wurden. Da hatte man die Idee, dass die Kinder, die aus Schulen in ihrem Land in unsere wechseln, hier eine Zeit lang in Deutsch gefördert werden und dann ins Regelsystem gehen. Heute ist die Situation ja eine komplett andere.“
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Dass Zwölf- und auch 14-jährige kommen, die noch nie eine Schule besucht haben, sei es wegen der Situation im Ursprungsland oder wegen der Jahre andauernden Flucht nach Deutschland, war damals nicht vorstellbar. „Eine ideale Situation wäre ein Sprachenlernen im ‘Sprachbad’, in der Umgebung Deutschsprachiger. Aber auch das entspricht bei uns auch in Regelklassen kaum der Realität. Echtes Sprachvorbild sind vor allem die Lehrer“, erklärt Elvert. Ein weiteres Problem: Es gibt keinen Platz in Regelklassen, um IFÖ-Kinder aufzunehmen.
Kleinere Klassen wären hilfreich. Aber dafür fehlen die Lehrkräfte
„Dafür müssten wir die Klassen bis zum siebten Jahrgang leerer halten. Aber dann bekämen wir weniger Lehrkräfte zugesprochen. Die Besetzung hängt an der Schülerzahl“, so Elvert. Ganz zu schweigen davon, dass Förderung in kleineren Klassen ohnehin stets besser gelänge. Aber auch das scheitert am Lehrermangel, zudem oft an Raumnot.
Vom schulischen Wissen her gehören die Schüler nach der IFÖ-Zeit in der Regel in die fünfte Klasse. Weil ein soziales Miteinander von 13- bis 15-Jährigen mit Zehnjährigen aber extrem schwierig wäre, kommen die Heranwachsenden in siebte und achte Jahrgänge: Mit Schülern, die in Fächern wie Naturwissenschaften, Geschichte naturgemäß erheblich mehr Basiswissen haben, ganz abgesehen von den Fremdsprachen. Unterm Strich gelte, dass es immer schwieriger werde, je älter das Kind ist, wenn es hier in der Schule startet, erklärt Elvert.
Altersgemäßes Lehrmaterial für pubertierende Analphabeten ist Mangelware
Alpha-Klassen-Lehrerin Sylvia Richartz verzweifelt manches Mal an den Bedingungen, unter denen ihre Schützlinge die deutsche Sprache, Schreiben und Lesen und so viel mehr lernen müss(t)en. Zumal es an angepasstem Lehr-Material für die späten Lese-Anfänger fehlt. „Wer mit Zwölf in der Alpha-Klasse startet, nach einem Jahr dann für zwei Jahre mindestens in der IFÖ-Klasse lernt, startet mit 15 Jahren frühestens in eine Regelklasse, im achten Jahrgang. Wie soll da jemand einen Abschluss schaffen?“ klagt sie. Zumal dann bald die Schulpflicht endet. Helfen könnte ihrer Einschätzung nach, wenn es nur Gesamtschulen statt dem gegliederten System gäbe.
Dabei gibt es – vor allem im „normalen“ IFÖ-Bereich – auch echte Erfolgsgeschichten, Flüchtlingskinder, die ein gutes Abitur schaffen trotz alledem, erinnert Elvert an zwei solcher Erfolge allein in diesem Jahr an seiner Schule: Dabei ein syrischer Flüchtling, der sein Abitur mit einer 1 schaffte.
Gesamtschule Erle: Gute Erfahrung mit eigenem IFÖ-System
Andreas Lisson leitet die Gesamtschule Erle. An der Surressestraße hat er einen eigenen Standort für die IFÖ-Klassen (aber ohne Alpha-Klassen), mit selbst erarbeitetem Förderkonzept plus Brückenklassen, um den Übergang in Regelklassen flexibler zu ermöglichen. Für die auch hier unverzichtbaren Mehrklassen im Jahrgang acht teilt er den gesamten Jahrgang neu auf; das habe sich sehr bewährt, so Lisson.
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Seine Bilanz der IFÖ-Arbeit an seiner Schule lautet: Es schaffen nicht alle, aber viele. Einem Drittel gelinge der Wechsel samt gutem Abschluss, der zu einer Ausbildung oder manchmal auch zum Studium befähigt: „Vor allem bei den Kindern, die aus unserem eigenen System kommen“, versichert er. Ein Drittel schaffe mit Verzögerung einen Hauptschulabschluss nach Klasse neun oder auch zehn und ein Drittel gehe verloren, bleibe der Schule zunehmend fern – trotz Bußgeldern wegen Schulabsentismus.