Bochum. Anderthalb Jahre ging Sal nicht zur Schule. Ihre Angst war zu groß, es war ihr unmöglich. Wie die heute 17-Jährige einen Ausweg fand.
Irgendwann ging Sal* abends nicht einmal mehr ins Bett. Aus Sorge, sich am Morgen sonst wieder nicht aufraffen zu können. Es half natürlich nicht. Die Angst vor dem Schulbesuch war am Ende so gewaltig, dass er Sal unmöglich wurde. Sie blieb einfach weg. Anfangs sporadisch nur, dann immer öfter, zuletzt ganz. Anderthalb Jahre lang. Doch die heute 17-Jährige fand mit Hilfe des Bochumer „Schulabsentisten“-Projekts Unicus einen Weg aus der „Teufelsspirale“. Gerade hat sie ihren Realschulabschluss gemacht, im nächsten Jahr wird sie das Abitur in Angriff nehmen.
Sal war zwölf, als sie wegen Depressionen erstmals in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden musste. Drei weitere stationäre Aufenthalte, mehrere ambulante Therapien sollten folgen. Zur Schule, erinnert sie sich, sei sie bis zur achten, neunten Klasse dennoch gern gegangen. Bio, Englisch, Kunst und Geschichte waren ihre Lieblingsfächer am Gymnasium und die Noten bestens. „Sal war immer eine Einser-Kandidatin“, sagt Mutter Britta. Dann kam Corona und mit der Pandemie kamen die Lockdowns.
„Ich habe es einfach nicht mehr geschafft hinzugehen“
„Zunächst“, erinnert sich Sal, „fand ich den Online-Unterricht ganz okay. Anfang 2021 änderte sich das, das war der Cut.“ Sie begann, ihre Aufgaben nicht mehr pünktlich abzugeben, verweigerte sich zunehmend dem Homeschooling, schließlich auch dem Präsenzunterricht, „wenn er denn stattfand“. Ihr Kind sei von Mitschülern gemobbt worden, sagt Sals Mutter. Sal selbst hat das nie so empfunden, sie sagt, auch viele Lehrer seien sehr empathisch gewesen, hätten helfen wollen. „Ich habe es damals einfach nicht mehr geschafft hinzugehen“, versucht sie sich an einer Erklärung. „Es fiel mir unglaublich schwer aufzustehen, obwohl ich ja wusste, ich muss eigentlich. Aber ich sah überhaupt keinen Sinn mehr darin. Und je seltener ich in der Schule war, desto größer wurde meine Angst davor.“
Irgendwann, so Sal, gab es deswegen „natürlich Riesenstress mit den Eltern“. „Jeder Morgen war ein Kampf“, sagt Mutter Britta. Sie und ihr Mann hätten „alles versucht“, nichts fruchtete. Als Alptraumzeit erinnert sie jene Phase, nie im Leben habe sie sich ohnmächtiger gefühlt. „Ich war so verzweifelt, so hin- und hergerissen zwischen dem Wissen um die Schulpflicht, der Angst vor behördlichen Sanktionen und dem, was ich vor mir sah: mein Kind, das eindeutig nicht in der Lage war, die Schule zu besuchen. Es war die Hölle.“
11.387 Jugendliche verließen 2022die Schule ohne Abschluss
Rund 3,5 Prozent aller Schüler leiden laut DAK-Kinder- und Jugendreport 2018 an Schulangst, der größte Teil also der geschätzt fünf Prozent, die dem Unterricht regelmäßig fernbleiben. Die Gründe sind mannigfaltig, reichen von Trennungsangst über Ausgrenzung, Krankheit und familiärem Stress bis Überforderung. Knapp 8.800 Bußgeldverfahren leiteten die Behörden in NRW schon 2019 gegen die Eltern schulabsenter Kinder ein, pro unentschuldigtem Fehltag werden 80 bis 150 Euro fällig. Im vergangenen Jahr verschickte allein der Regierungsbezirk Düsseldorf 3.195 Bußgeldbescheide an Schulverweigerer (2019 waren es 2.900). 11.387 Jugendliche verließen 2022 die Schule ohne Abschluss.
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Corona hat die Lage verschärft, laut Statistischem Landesamt stieg bereits 2021, noch während der Pandemie, etwa die Zahl der unter 18-Jährigen, die wegen „depressiver Episoden“ in einer Klinik behandelt wurden, im Vergleich zu 2019 um 29 Prozent, auf 5.728 Fälle. Ende 2021 landete auch Sal wieder in der Psychiatrie, zum vierten Mal. Die Therapeuten zogen das Jugendamt hinzu, dieses schlug Unicus vor, ein spezielles Angebot für Schulabsentisten, eines, das sich bewährt habe. Im März 2022 stieg Sal ein – auch wenn der Schulleiter sie für die Teilnahme nicht freistellen wollte, was letztendlich zu einem Schulwechsel für Sal führte und zu weiterem „völlig unnötigen Druck“ für ihre Mutter. Sal hatte anfangs „wenig Hoffnung, dass man mir dort helfen könnte“. Es dauerte Monate, bis sie regelmäßig in die Tagesgruppe kam, doch nach und nach gelang es den Bochumer Pädagogen, ihr Vertrauen zu gewinnen. „Die sprechen die richtige Sprache, die wissen genau, wo sie die Kids abholen müssen“, erzählt Mutter Britta. „Sie waren sehr, sehr geduldig“, sagt Sal.
„Bei Unicus keimte erstmals ein Funke Hoffnung auf“
Die 17-Jährige fühlte sich bei Unicus verstanden und ernst genommen. Vor allem aber traf sie hier auf andere Jugendliche, denen es ähnlich ging wie ihr, die sich monate-, manche jahrelang der Schule ebenfalls verweigert hatten. „Als ich endlich in der Gruppe angekommen war, standen einige kurz vor der Wiedereingliederung und waren total gut drauf. Als die erzählten, dass auch für sie der Anfang schwer gewesen war – da keimte zum ersten Mal ein Funke Hoffnung auf“, berichtet Sal. Dann weckte vor allem das Theaterprojekt ihre Begeisterung, sie übernahm die Regie und eine der beiden Hauptrollen in dem Stück „Die Gebrüder Frankenstein“. In der „KoFabrik“, wo geprobt wurde, wird sie im September ihren Bundesfreiwilligendienst antreten. Denn nach fast anderthalb Jahren ist jetzt Schluss für Sal bei Unicus. „Es reicht, ich habe meine Schulangst überwunden“, sagt sie.
Dass sie den Realabschluss inzwischen „in der Tasche hat“ (Schnitt: 1,3!), erzählt die 17-Jährigel lässig nebenbei. Sie legte die Prüfungen gerade „extern“, direkt bei der Bezirksregierung ab. Dass und wo sie Abitur machen will, steht inzwischen auch fest. Gezielt entschied sich Sal für das Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg („kleinere Klassen, chilligeres Umfeld“). Sie muss 18 sein dafür, die Zeit bis dahin überbrückt sie als „Bufdi“. Nur Sals Mutter wundert sich noch, dass aus ihrem verschlossenen Kind, dem so lange so vieles „wurscht“ gewesen sein, nun eine so viel offenere Person mit konkreten Plänen und Perspektiven geworden sei. „Ich bin so stolz auf Sal“, betont sie.
„Haben Sie keine Scham, vor dem Jugendamt, das kann helfen“
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„Bleiben Sie zuversichtlich“, lautet ihr Rat für andere betroffene Eltern. „Und haben Sie keine Scham vor dem Jugendamt. Das kann tatsächlich helfen.“ „Es bringt nichts, wenn Eltern immer und immer wieder pushen, auch wenn es gute Gründe dafür gibt“, sagt Sal. Betroffenen Jugendlichen empfiehlt sie: „Redet mit irgendjemandem, egal wem, über das Problem, gesteht, dass es eines ist – und lasst euch helfen!“ Sie habe viel zu lange gebraucht, um zu merken, „wie scheiße es mir ging“.
*Sal fühlt sich „nicht- binär“, weder als Mann noch als Frau; ist aber damit einverstanden, dass wir im Text die weibliche Form verwenden.
>>>> Das Projekt Unicus
Unicus ist ein Projekt der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Vinzenz Bochum (früher; St. Vinzenz). In Tagesgruppen sollen sich die Teilnehmer mit ihrem „Schulabsentismus“ auseinandersetzen. Ziel ist die (Re-)Integration in die Schule, in der Regel nach neun Monaten. Sie gelingt, so Teamleiter Daniel Zerra, bei weit über der Hälfte der Unicus-Absolventen.
Die Teilnehmerzahl ist auf zehn Kinder und Jugendliche (Aufnahmealter: 13 bis 17 Jahre) begrenzt, aktuell ist ein Platz frei.
Von 9 bis 15 Uhr werden die Teilnehmenden von vier Pädagogen/Pädagoginnen betreut und gezielt individuell sowie in der Gruppe gefördert; nur 1,5 Stunden sind klassische „Lernzeit“ für die Hauptfächer. Es geht es vor allem darum, die Stärken der Teilnehmer zu entdecken und fördern, daher stehen auch viele künstlerische Projekte oder andere Kreativangebote, Übungen zum Aufbau von Kooperation und Vertrauen sowie soziales Kompetenztraining auf dem Programm – und immer wieder: Einzelgespräche. Auch die Eltern werden eingebunden, erhalten Hilfe bei der Erziehung.
Das Jugendamt übernimmt in der Regel die Kosten. Kontakt und Infos: iframe newsletter Familie WAZ anmeldemaske inline