Gelsenkirchen. US-Truppen rücken in den Ostertagen ins zerstörte Gelsenkirchen vor. Am 10. April 1945 ruhen die Waffen. Die letzten Kriegstage vor 75 Jahren.

NS-Diktatur, Tod und Verfolgung, Bombenhagel und Kampfhandlungen endeten in Gelsenkirchen am 10. April 1945 um 9.45 Uhr. An diesem Tag wurde die Stadt von US-Truppen besetzt. Die Befreier kamen zunächst als Besatzer, sie brachten noch nicht den endgültigen Frieden aber das Ende des Zweiten Weltkriegs für die Stadt, knapp einen Monat bevor die letzten Wehrmachtseinheiten den Kampf aufgaben und das NS-Regime am 8. Mai endgültig kapitulierte.

Der schwerste Angriff traf Gelsenkirchen 1944

3092 zivile Opfer forderte der Zweite Weltkrieg ab 1939 in Gelsenkirchen. Noch am 19. März 1945 trafen Bomben das Hans-Sachs-Haus, 81 Menschen starben im Luftschutzkeller des Gebäudes. Von 93.028 Wohnungen 1939 waren bei Kriegsende 70.744 beschädigt, davon 12.021 zu über 60 Prozent. Der schwerste Angriff mit 1700 Bombern traf die Stadt am 6. November 1944. 518 Menschen starben allein an diesem Tag.

Der Kirchturm von St. Urbanus wurde zerstört

Bereits Karfreitag 1945, am 30. März, ging in Buer und Horst der Krieg zu Ende. Einen Tag zuvor erlitten die Bewohner noch den letzten schweren Angriff, der 56 Tote forderte. Zerstört wurde der Kirchturm von St. Urbanus, der Rathausturm ging in Flammen auf. Amerikanische Truppen besetzten den Stadtnorden, Gründonnerstag waren Streitkräfte der 8. US Panzerdivision, unterstützt von Jagdbombern, nach Scholven, Schaffrath und Hassel vorgerückt.

Gelsenkirchen vor 75 Jahren: Das Ende des Zweiten Weltkriegs

Ein US-Infantrist auf dem Stahlträger einer zerstörten Brücke. Nachdem am 7. April die Einkesselung des Reviers abgeschlossen war, bereitete man die Überquerung der Emscher und des Rhein-Herne-Kanals vor, die am 9. April um 6.35 Uhr startete – hinüber nach Gelsenkirchen-Bismarck.
Ein US-Infantrist auf dem Stahlträger einer zerstörten Brücke. Nachdem am 7. April die Einkesselung des Reviers abgeschlossen war, bereitete man die Überquerung der Emscher und des Rhein-Herne-Kanals vor, die am 9. April um 6.35 Uhr startete – hinüber nach Gelsenkirchen-Bismarck. © Bork/Siebert/Ausstellung Christuskirche
Einsam unterwegs in einer menschenleeren Stadt: Foto-Material aus den US-Archiven zeigt den Einmarsch in Gelsenkirchen Bismarck durch US-Truppen.
Einsam unterwegs in einer menschenleeren Stadt: Foto-Material aus den US-Archiven zeigt den Einmarsch in Gelsenkirchen Bismarck durch US-Truppen. © Bork/Siebert/ Ausstellung Christuskirche
Einmarsch in Bismarck: Am 10. April 1945 war für die Gelsenkirchener der Zweite Weltkrieg faktisch beendet. US-Truppen auf ihrem Weg nach Bismarck.
Einmarsch in Bismarck: Am 10. April 1945 war für die Gelsenkirchener der Zweite Weltkrieg faktisch beendet. US-Truppen auf ihrem Weg nach Bismarck. © Bork/Siebert/Ausstellung Christuskirche
Im Schlauchboot übergesetzt: Für die Ausstellung in Bismarck wurde freies Fotomaterial aus US-Archiven genutzt. 
Im Schlauchboot übergesetzt: Für die Ausstellung in Bismarck wurde freies Fotomaterial aus US-Archiven genutzt.  © Bork/Siebert/Ausstellung Christuskirche
Unter dem Roten Kreuz: Das Foto zeigt die Uniform und Ausrüstung eines US-Feldsanitäters im Zweiten Weltkrieg.
Unter dem Roten Kreuz: Das Foto zeigt die Uniform und Ausrüstung eines US-Feldsanitäters im Zweiten Weltkrieg. © Philipp Siebert
Ziel der alliierten Bomberstaffeln waren die Chemiewerke in der Stadt. Das Foto entstand im August 1944 und zeigt das zerstörte Hydrierwerk in Gelsenkirchen-Scholven.
Ziel der alliierten Bomberstaffeln waren die Chemiewerke in der Stadt. Das Foto entstand im August 1944 und zeigt das zerstörte Hydrierwerk in Gelsenkirchen-Scholven. © Institut für Stadtgeschichte
Horst wurde im Zweiten Weltkrieg mehrfach angegriffen. 1944 dokumentiert das Bild die Zerstörungen an der Raffinerie.
Horst wurde im Zweiten Weltkrieg mehrfach angegriffen. 1944 dokumentiert das Bild die Zerstörungen an der Raffinerie. © Institut für Stadtgeschichte
Die Crew eines US-Bombers B 17: Piloten und Mannschaft flogen in der Angriffsstaffel, die am 26. August 1944 die Hydrierwerke in Gelsenkirchen-Scholven als Ziel hatte. Von der deutschen Flugabwehr abgeschossen, stürzte der Bomber bei Rheinberg ab.
Die Crew eines US-Bombers B 17: Piloten und Mannschaft flogen in der Angriffsstaffel, die am 26. August 1944 die Hydrierwerke in Gelsenkirchen-Scholven als Ziel hatte. Von der deutschen Flugabwehr abgeschossen, stürzte der Bomber bei Rheinberg ab. © Archiv Huebotter
Über 60 Prozent der Innenstadtgebäude waren 1945 schwer zerstört: Das Foto zeigt beschädigte Wohn- und Geschäftshäuser und die Altstadtkirchen in Gelsenkirchen in der Straße am Rundhöfchen.
Über 60 Prozent der Innenstadtgebäude waren 1945 schwer zerstört: Das Foto zeigt beschädigte Wohn- und Geschäftshäuser und die Altstadtkirchen in Gelsenkirchen in der Straße am Rundhöfchen. © Institut für Stadtgeschichte
Leben in Trümmern: In den 1940er Jahren gehörten die Zerstörungen zum Alltag in Gelsenkirchen. Die Infrastruktur musste nach Kriegsende mühsam wieder aufgebaut werden. In den letzten Kriegstagen wurde das Hans-Sachs-Haus (Foto) nochmals schwer getroffen, zahlreiche Menschen starben dort im Luftschutzraum.
Leben in Trümmern: In den 1940er Jahren gehörten die Zerstörungen zum Alltag in Gelsenkirchen. Die Infrastruktur musste nach Kriegsende mühsam wieder aufgebaut werden. In den letzten Kriegstagen wurde das Hans-Sachs-Haus (Foto) nochmals schwer getroffen, zahlreiche Menschen starben dort im Luftschutzraum. © Institut für Stadtgeschichte
Kriegsschäden in Gelsenkirchen: Den Weg in die NS-Diktatur, die Situation in Gelsenkirchen und die Folgen für die Stadt zeichnet die Dokumentationsstätte in Erle in ihrer Dauerausstellung und Katalogen nach. 
Kriegsschäden in Gelsenkirchen: Den Weg in die NS-Diktatur, die Situation in Gelsenkirchen und die Folgen für die Stadt zeichnet die Dokumentationsstätte in Erle in ihrer Dauerausstellung und Katalogen nach.  © Institut für Stadtgeschichte
Aufräumen mit Schaufel und Körperkraft: Männer, Frauen und Kinder packen mit an und beseitigen Trümmer vor der evangelischen Altstadtkirche.
Aufräumen mit Schaufel und Körperkraft: Männer, Frauen und Kinder packen mit an und beseitigen Trümmer vor der evangelischen Altstadtkirche. © Privat
Die Amerikaner kommen: Am 10. April 1945 besetzen Truppen des 134. US-Infantrie-Regiments, unterstützt von Kampfpanzern, Gelsenkirchen.
Die Amerikaner kommen: Am 10. April 1945 besetzen Truppen des 134. US-Infantrie-Regiments, unterstützt von Kampfpanzern, Gelsenkirchen. © Ralf Blank
Not in Friedenszeiten: Brot, Fett und Fleisch gab es in den Nachkriegsjahren oft nur für Lebensmittelmarken. Diese hier hatte Renate Niedballa aufbewahrt, die als Ost-Flüchtling nach Gelsenkirchen kam.
Not in Friedenszeiten: Brot, Fett und Fleisch gab es in den Nachkriegsjahren oft nur für Lebensmittelmarken. Diese hier hatte Renate Niedballa aufbewahrt, die als Ost-Flüchtling nach Gelsenkirchen kam. © Funke Foto Services | Joachim Kleine-Büning
Die Hinterlassenschaften des Krieges: Blindgänger finden sich bis heute überall im Gelsenkirchener Stadtgebiet. Tausende Tonnen Bomben wurden bis 1945 abgeworfen. Das Foto vom 28. August 1988 entstand in Buer: Feuerwerker Manfred Beckmann hält den Zünder einer soeben von ihm entschärften Fünf-Zentner-Bombe in der Hand.
Die Hinterlassenschaften des Krieges: Blindgänger finden sich bis heute überall im Gelsenkirchener Stadtgebiet. Tausende Tonnen Bomben wurden bis 1945 abgeworfen. Das Foto vom 28. August 1988 entstand in Buer: Feuerwerker Manfred Beckmann hält den Zünder einer soeben von ihm entschärften Fünf-Zentner-Bombe in der Hand. © WAZ Foto-Pool | Heinz-Jürgen Kartenberg
Die Dachdeckerfirma Grumpe hat die katholische Altstadtkirche St. Augustinus zweimal gedeckt: vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Dachdeckerfirma Grumpe hat die katholische Altstadtkirche St. Augustinus zweimal gedeckt: vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. © Grumpe
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"Die Straßenzüge waren in Trümmerwälle verwandelt, an vielen Stellen war auch die Kanalisation getroffen, so dass die Abwässer in die Trümmerfelder flossen. Bereits am Mittwoch, 28. März, versuchten die Nazis in Horst noch einen Volkssturm aufzustellen, 15- oder 16- jährige Jungen, kampfuntaugliche Männer und solche ab 50 wurden mobilisiert", schreibt der Horster Heinz Kolb in seinen Erinnerungen an das Kriegsende.

Flakhelfer auf der Rennbahn verließen ihre Stellung

In Horst schleppten sich die letzten versprengten deutschen Soldaten durch die Buerer Straße in Richtung Buer. "Auf kleinen Handwagen und in alten Kinderwagen führten sie ihre Waffen mit sich. Auf der Horster Rennbahn verließen die letzten Flakhelfer ihre Stellung." Karfreitag wurden laut Kolb gegen 14.30 Uhr über Horst die letzten Bomben abgeworfen. Gegen 15 Uhr rückten dann auf der Bottroper Straße amerikanische Panzer vor, in letzten Gefechten starben drei deutsche Soldaten.

Bismarck galt einen Tag vor dem Rest Gelsenkirchens, am 9. April um 9.25 Uhr als befreit. Philipp Siebert und der Historiker Benjamin Bork vom Förderverein der Bismarcker Christuskirche haben diese Zeit speziell aus der Perspektive der dortigen evangelischen Kirchengemeinde für ein Ausstellungsprojekt aufgearbeitet. Ergebnisse der gemeinsamen Recherche, an der auch Sieberts Frau Melanie mit Zeitzeugenbefragungen beteiligt war, sollten eigentlich am Gründonnerstag in der Christuskirche präsentiert werden. "Aber leider lassen das die Umstände nicht zu", bedauert Bork.

3100 Mann starkes, aus Nebraska stammendes Regiment

Eine wesentliche Rolle bei der Einnahme Gelsenkirchens spielte das über 3100 Mann starke, aus Nebraska stammende, 134th Infantry Regiment der 35th Infantry Division. Bereits Ende März hatte das Regiment mit der gesamten Division den Buerer Raum besetzt und sich in Resse, Herten und Westerholt einquartiert. Nachdem am 7. April die Einkesselung des Reviers abgeschlossen war, überquerten die Soldaten am 9. April Emscher und Rhein-Herne-Kanal und rückten nach Bismarck vor.

„Am Ostersonntag, damals der 1. April, wurde Bismarck Zeuge einer Brückensprengung, in den folgenden Tagen gab es immer wieder nächtliches Artilleriefeuer zwischen amerikanischen und deutschen Geschützen sowie Jagdbomber-Angriffe, die über 100 Opfer unter Gelsenkirchens Zivilbevölkerung forderten“, so Siebert. In der teils massiv zerstörten Stadt herrschte Nahrungsmittelknappheit, Lebensmittel waren eingelagert und rationiert. Zwar hatten die Läden in der ersten Aprilwoche laut Zeitzeugen noch genügend Brot und Fleisch, bald schon aber setzten Hamsterkäufe und Plünderungen der Lebensmitteldepots ein.

Einmarsch wurde als Erleichterung empfunden

„Die zunehmend unglaubwürdigen gebetsmühlenartigen Durchhalteparolen der NS-Behörden, die immer noch die Möglichkeit einer erfolgreichen Verteidigung behaupteten, stießen bei den Einwohnern und den verbliebenen Verteidigern immer mehr auf Unmut“, so Siebert. Als Quelle dienten ihm und Bork unter anderem ein Bericht eines unbekannten Bismarcker Zeitzeugen aus der Chronik der Stadt Gelsenkirchen für 1945. Demnach wurde der Einmarsch der Amerikaner und damit die Einstellung der Kampfhandlungen als Erleichterung empfunden. Siebert, der ein umfangreiches Archiv zur Geschichte der US-Streitkräfte besitzt, hat zudem Unterlagen der US Army ausgewertet und den Ablauf der militärischen Operationen detailliert zusammengestellt.

An der gesamten Front läuteten die Kirchenglocken

Wenige Übergriffe auf die Zivilbevölkerung hat es durch die einmarschierende Truppen gegeben. Im Großen und Ganzen, so Sieberts Eindruck, "verlief der Kontakt zwischen den US-Streitkräften und Einheimischen friedlich und entspannt. Das zeigt sich auch daran, dass am 9. April um 15.25 Uhr in Gelsenkirchen entlang der gesamten Front die Kirchenglocken läuteten, als Zeichen des erwarteten Friedens und dass die Befreiung weitgehend widerstandslos, sowie ohne Verluste auf amerikanischer Seite erfolgte.“

Präsentation und Audio-Andacht auf der Homepage

Die Präsentation der Recherche und das "äußerst spannende Material" wird vorerst auf der Homepage der Kirchengemeinde präsentiert, so Dieter Eilert, Pfarrer an der Christuskirche, der auch Vorsitzender des Fördervereins ist. Eilert selbst plant "im Rahmen einer Audio-Andacht zum Gründonnerstag auf die Ereignisse jener Tage und die Inhalte der Ausstellung einzugehen.“

Die digitale Ausstellung und die Andacht sowie weitere Video- und Audiogottesdienste finden sich auf der Homepage der Evangelischen Apostel-Kirchengemeinde Gelsenkirchen: www.apostel-gelsenkirchen.de

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