Essen. Selbsthilfe ist mehr als Austausch, sagt die Essener Selbsthilfeberatungsstelle „Wiese“. Warum auch Ärzte ihre Patienten in die Gruppe schicken.

Das Alphabet der Selbsthilfe buchstabiert sich von Angst bis Zwang, von Aids bis Zöliakie. Es gibt Gruppen für hochbegabte Kinder und für verwaiste Eltern, für Kriegsenkel, Erdnussallergiker, Stotterer und Süchtige. Mehr als 300 Gruppen sind es in Essen, und das ist auch Verdienst der Selbsthilfeberatungsstelle „Wiese“ e.V. „Wir haben ganz viel Pionierarbeit gemacht“, sagt Geschäftsführerin Gabriele Becker, die sich Ende April in den Ruhestand verabschiedet hat – nach 32 Wiese-Jahren.

Selbsthilfe ergänzt das Wissen, das das medizinische System hat.“
Gabriele Becker, langjährige Geschäftsführerin der Essener Selbsthilfeberatungsstelle „Wiese“ e.V.

Seit 1992 war sie dabei, nur zwei Jahre zuvor war der Verein gegründet worden, den Becker bis heute mitprägen sollte. Sie warb für die Selbsthilfe auf der Messe „Mode Heim Handwerk“ und im persönlichen Gespräch, beim Gesundheitstag oder im Interview. Sie setzte mit dem kleinen Team Themen, lernte „unheimlich viele nette Leute kennen“ und knüpfte „kollegiale Freundschaften“, was so viel wärmer klingt als netzwerken.

In Essen gibt es mehr als 300 Selbsthilfegruppen

Prägte die Selbsthilfeberatungsstelle „Wiese“ e.V. über viele Jahrzehnte: Gabriele Becker.
Prägte die Selbsthilfeberatungsstelle „Wiese“ e.V. über viele Jahrzehnte: Gabriele Becker. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Darum ist Wehmut dabei, wenn sie nun aufhört. Gleichzeitig freut sie sich, dass mit André Beermann ihr Wunschkandidat als Geschäftsführer folgt: „Er ist ein super Moderator, toller Kollege, super fachkundig.“ Sie kennen sich seit mehr als einem Jahrzehnt und arbeiteten nun einige Wochen zusammen, damit sich Beermann, der aus dem Münsterland stammt und zuletzt im Kreis Viersen tätig war, mit dem Wiese-Kosmos vertraut machen kann.

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Geprägt ist dieser durch zahllose Gruppen, die sich mit medizinischen Themen befassen – aus der Warte der Patienten oder der Angehörigen. Da tauschen sich Menschen mit Blasenkrebs, Herzschwäche, Rheuma oder Polyneuropathie aus. Da geht es um Reha, Diäten, Sport und Hilfsmittel, um chronische Erschöpfung, Glücksmomente oder das „Leben ohne Magen“.

Lange auf Stuhlkreis und Kaffeeklatsch Betroffener herunterverniedlicht, genießt Selbsthilfe heute Respekt – auch bei vielen Ärzten und Ärztinnen. „Selbsthilfe ergänzt das Wissen, das das medizinische System hat“, sagt Gabriele Becker. „Die Patienten haben die Krankheit durchlebt, bringen Erfahrungs- und Erkenntniswissen mit.“ Sie können einander praktische Tipps geben und zurück ins Leben helfen.

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Die Wiese geht an Pflegeschulen, spricht mit Medizinischen Fachangestellten und Medizinstudenten, arbeitet mit allen Krankenhäusern in Essen zusammen. Selbsthilfegruppen bekommen in den Kliniken oft kostenlos Räume für ihre Treffen. Patienten mit Krebs oder chronischen Krankheiten, die ihr Leben komplett umstellen müssen, lernen in der Gruppe etwa, wie sie mit künstlichem Darmausgang klarkommen können. „Die Betroffenen profitieren davon – und die Ärzte auch“, sagt Gabriele Becker. Weil so auch Komplikationen und Folgeschäden reduziert werden, hält der Gesetzgeber die Ärzte inzwischen an, auf Selbsthilfe hinzuweisen. „Wenn ich morgen beim Arzt eine schäbige Diagnose bekomme, weiß ich, dass es in Essen dazu eine Gruppe mit tollem Hilfspaket gibt.“

Hilfe für Hochsensible, Messies oder Menschen in toxischen Beziehungen

Sieht Selbsthilfe als wichtigen Teil der Zivilgesellschaft: André Beermann, neuer Geschäftsführer der Essener Selbsthilfeberatungsstelle „Wiese“ e.V.
Sieht Selbsthilfe als wichtigen Teil der Zivilgesellschaft: André Beermann, neuer Geschäftsführer der Essener Selbsthilfeberatungsstelle „Wiese“ e.V. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Gleiches gelte für Gruppen, die sich an Suchtkranke wenden: „Wenn es da einem schlecht geht und er zur Flasche greifen will, kann er auch nachts anrufen. Das kann gegen den Saufdruck helfen.“ Ähnlich ergehe es den vielen Betroffenen, die sich wegen Angststörungen oder Depressionen bei der Wiese melden. Wer schwere psychische Probleme habe, benötige neben der Selbsthilfe allerdings oft auch eine Psychotherapie, betont Becker.

Auszeichnung für Selbsthilfegruppen

Die Selbsthilfeberatungsstelle Wiese ist seit 1990 ein eingetragener gemeinnütziger Verein, der Name steht für „Werkstatt – Informationsstelle für Essener Selbsthilfegruppen“. Der Verein vernetzt Gruppen, bildet fort und betreut Neugründungen.

Es gibt mehr als 300 Selbsthilfegruppen in Essen, die sich an Betroffene und/oder Angehörige. Sie unterstützen Menschen in Lebenskrisen, mit psychischen oder Suchterkrankungen ebenso wie Menschen, die unter Armut, Arbeitslosigkeit, Trennung oder Einsamkeit leiden. Besonders groß ist das Angebot zu Krankheiten. Der „Wegweiser“ der Wiese listet die Gruppen auf.

Der Essener Selbsthilfepreis würdigt das Engagement von fünf Gruppen mit jeweils 1000 Euro. Bewerben können sich Gruppen, die sich der körperlichen oder seelischen Genesung, der gesundheitlichen Aufklärung oder der psychosozialen Unterstützung widmen. Bewerbungen können bis 15. Mai geschickt werden an: „Wiese“, Eulerstraße 17, 45143 Essen. Weitere Infos auf: www.wiesenetz.ruhr/

Die Wiese berät auch all jene, die eine neue Selbsthilfegruppe gründen möchten: Das Team hilft, einen Raum zu finden, einen Aufruf zu starten, den ersten Termin zu planen. Im Laufe der Jahre haben sich Gruppen für Hochsensible und für Messies gegründet, für Betroffene von Mobbing oder Burn-out. Im vergangenen Jahr kamen gleich drei Angebote zu toxischen Beziehungen hinzu. „Wir sind wir auch gesellschaftlicher Seismograf.“

Gruppen Gehör und Teilhabe verschaffen: Das ist das Stück, mit dem wir jeden Abend auftreten.“
André Beermann, neuer Geschäftsführer der Essener Selbsthilfeberatungsstelle „Wiese“ e.V.

Eine Vorreiterrolle in der Selbsthilfe spielte vor Jahrzehnten die Aidshilfe: Sie bot nicht nur Austausch und Unterstützung, sondern kämpfte von Anfang an auch gegen Vorurteile und Stigmatisierung. Beckers Nachfolger André Beermann hat lange im Bereich der Aidshilfe gearbeitet; zuletzt leitete er die Kontaktstelle für Selbsthilfe in Viersen. Er ist in Landes- und Bundesgremien engagiert und von der Bedeutung der Selbsthilfe überzeugt: „Sie ist eine Säule des Gesundheitssystems und wichtiger Teil der Zivilgesellschaft.“

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Heute gebe es Krebspatienten, die sich zum Kochen treffen oder zusammen Berge erklimmen, trotzdem sei der Stuhlkreis nicht völlig passé: „Man muss nicht Drachenbootfahren, das Gespräch ist weiter die Grundlage von Selbsthilfe.“ Dem 51 Jahre alten Sozialarbeiter sind Gesundheitskompetenz, Selbstwirksamkeit und Wissensvermittlung wichtig, daneben will er die soziale Selbsthilfe noch stärker fördern: Besonders Einsamkeit sei ein großes Thema. „Gruppen Gehör und Teilhabe verschaffen: Das ist das Stück, mit dem wir jeden Abend auftreten.“

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