Essen. Der Entzug ist nur der Anfang: Viele Essener Suchtkranke bleiben lebenslang in Selbsthilfegruppen. Das senkt die Rückfallquote, sagen Experten.

Sie sind die „Dinosaurier der Selbsthilfe“ und Jahrzehnte lang erprobt: Sucht-Selbsthilfegruppen begleiten viele Betroffene und ihre Angehörigen oft lebenslang, stärken sie – und senken das Rückfallrisiko spürbar. Gabriele Becker vom Essener Selbsthilfenetzwerk Wiese e.V. hofft daher, dass möglichst viele Essener, die persönlich oder beruflich mit Sucht zu tun haben, am Mittwoch, 14. Juni, ins Haus der Begegnung kommen: „Dann wollen wir zeigen, was Suchtselbsthilfe kann.“

„Wir wollen zeigen, was Suchtselbsthilfe kann“, sagt Gabriele Becker vom Selbsthilfenetzwerk Wiese e.V. Sie wirbt für eine Info-Veranstaltung am Mittwoch, 14. Juni, um 16 Uhr im Haus der Begegnung in Essen.
„Wir wollen zeigen, was Suchtselbsthilfe kann“, sagt Gabriele Becker vom Selbsthilfenetzwerk Wiese e.V. Sie wirbt für eine Info-Veranstaltung am Mittwoch, 14. Juni, um 16 Uhr im Haus der Begegnung in Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Gut zwölf Prozent der Anfragen, die bei der Wiese landen, beziehen sich auf eine Suchtproblematik. Der Bedarf ist groß, das Angebot auch: Etwa 60 Suchtselbsthilfegruppen gibt es in Essen. Sie haben unterschiedliche Arbeitsansätze und Zielgruppen; auch bieten viele Träger verteilt auf das Stadtgebiet gleich mehrere Gruppen an: So sind es bei den Anonymen Alkoholikern zehn, beim Kreuzbund doppelt so viele: Fast jeder Betroffene sollte ein wohnortnahes Angebot finden.

Rückkehr ins alte Leben ist für Suchtkranke riskant

Doch mancher sucht erst gar nicht. „Viele denken nach dem Entzug: ,Ich war in der Klinik, jetzt bin ich geheilt.’“, sagt Gabriele Becker. Das sei ein Trugschluss: Die Rückkehr ins alte Leben berge die Gefahr, auch in alte Muster zurückzufallen. Zumal viele Betroffene vor allem soziale Kontakte haben, die ebenfalls mit Sucht zu kämpfen haben.

Gesprächsrunde im Sucht-Selbsthilfe-Vernetzungskreis (von links): Uwe Klietsch (Kreuzbund), Heike Bender-Roth (Kamillushaus), Margarete und Heinrich Gwozdz (Selbsthilfegruppe), Gabriele Becker (Wiese e.V.) und Bruno Goriß (Lädchen e.V.).
Gesprächsrunde im Sucht-Selbsthilfe-Vernetzungskreis (von links): Uwe Klietsch (Kreuzbund), Heike Bender-Roth (Kamillushaus), Margarete und Heinrich Gwozdz (Selbsthilfegruppe), Gabriele Becker (Wiese e.V.) und Bruno Goriß (Lädchen e.V.). © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

„Es ist ein wichtiger Schritt, sich nach der Entgiftung eine Gruppe zu suchen, in der man sich wohlfühlt“, sagt Mariane, die in den Anonymen Alkoholikern (AA) die Begleiter fürs Leben gefunden hat. „Wir sind eine Monologgruppe: Die Betroffenen sprechen reihum und werden nicht unterbrochen.“ Andere Träger und Vereine bieten Dialoggruppen an, in denen die Teilnehmer im Gespräch aufeinander eingehen.

Selbsthilfegruppe begleitet Betroffene lebenslang

Uwe Klietsch empfiehlt, sorgfältig auszuwählen, wo man andockt: „Im Idealfall sollte die Gruppe ein Leben lang halten. Da ist wichtig, dass man gern hingeht.“ Er selbst ist seit zwei Jahrzehnten beim Kreuzbund, inzwischen als Sprecher für Essen. So werde er regelmäßig daran erinnert, „dass ich krank bin“. Eine Erinnerung, die ihm hilft.

Sucht-Selbsthilfe-Gruppen laden ein

Essener Sucht-Selbsthilfe-Gruppen laden am Mittwoch, 14. Juni, von 16 bis 18 Uhr ins Haus der Begegnung, I. Weberstraße 28, ein. Unter dem Titel „Sucht-Selbsthilfe neu gedacht“ sprechen dann Sucht- und Psychotherapeut Bernd Dießelmann und Sozialarbeiterin Heike Bender-Roth (Kamillushaus). An der Diskussion nehmen teil: Christa (Al-Anon Familiengruppen), Mariane (Anonyme Alkoholiker), Uwe Klietsch (Kreuzbund) und Yvonne Treptow (Psychosoziale AG Sucht). Gabriele Becker (Wiese e.V.) moderiert.

Die Veranstaltung ist kostenlos, um Anmeldung wird gebeten, telefonisch unter 0201-20 76 76 oder per Mail an:

Am Mittwoch, 9. August, geht es an selber Stelle zur selben Uhrzeit um „Sucht und/oder Depression“.

Auch Christa braucht nach vielen Jahren noch den Halt von Al Anon: „Anfangs dachte ich, nach sechs Wochen könnte ich mein altes Leben wieder aufnehmen.“ Nun gehe sie noch immer zu den Treffen: „So bleibe ich in der Spur.“

Das ist nicht bloß eine gefühlte Wahrheit, sondern deckt sich auch mit den Erfahrungen von Therapeuten. „Wir empfehlen, von der Reha in die Selbsthilfe zu gehen“, sagt Heike Bender-Roth, therapeutische Leiterin in der Fachklinik Kamillushaus. Auch sie ist im Sucht-Selbsthilfe-Vernetzungskreis, in dem sich die Gruppen seit Jahren mit Fachkräften austauschen. Nicht nur für Suchtexperten sei dieser Austausch hilfreich, sondern auch für Beschäftigte in Jugend- und Eingliederungshilfe. Oder auf den somatischen Stationen von Krankenhäusern, wo die gesundheitlichen Folgen von Suchterkrankungen behandelt werden.

Auch nach der Pandemie gibt es Online-Treffen

Um auf ihre Arbeit aufmerksam zu machen, stellen sich die Selbsthilfegruppen regelmäßig in Kliniken vor. Doch während der Pandemie seien die Termine weggefallen, bedauert Gabriele Becker. Ebenso wie Info-Veranstaltungen und Treffen der verschiedenen Gruppen. Fast alle Träger haben irgendwann Online-Treffen angeboten, viele halten bis heute an ihnen fest.

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„Zoom ist ein hervorragendes Instrument“, findet etwa Mariane. Es spreche gerade jüngere Menschen an, Entfernungen würden unwichtig, selbst Kontakte in Nachbarländer habe man aufgebaut. „Wir raten aber, irgendwann in eine Gruppe zu gehen, in der man sich Face-to-Face begegnet. Das ist doch etwas anderes.“

So sehen es auch die Eheleute Margarete und Heinrich Gwozdz, die eine polnischsprachige Selbsthilfegruppe leiten. „Ich kann hier von Erfahrungen der anderen profitieren, ohne dass mir jemand sagt, was ich tun soll“, erzählt Heinrich Gwozdz. Das Gespräch mit anderen Menschen in gleicher Lage stärke sein Selbstwertgefühl. „Ich kann mich nun auch draußen besser behaupten, muss mich nicht mehr verstecken.“ In der Gruppe erlebe man die „Akzeptanz der Gleichgesinnten“ und gewinne das Vertrauen, auch von anderen akzeptiert zu werden, sagt Gabriele Becker.

Alkoholismus trifft die ganze Familie

Wichtig sei, dass auch die Angehörigen Hilfe bekommen. Was Margarete Gwozdz sofort bestätigt: Erst stellte sie sich auf das Leben an der Seite des Suchtkranken ein, dann kam nach der Entgiftung ein veränderter Ehemann zurück. „Er brachte neue Impulse mit, und ich musste erst gucken, was da plötzlich passierte.“ Durch die Selbsthilfe verstehe sie ihren Mann besser und habe gelernt: „Wenn einer krank ist, ist die ganze Familie krank.“

Und es sei nicht leicht, die Familie, die man vielfach verletzt und enttäuscht habe, zurückzugewinnen, ergänzt Bruno Goriß vom Altendorfer Lädchen e.V. „Als ich zurückkehrte, haben meine Kinder geguckt: ,Was mischt der sich jetzt in die Erziehung ein?’“

Heinrich Gwozdz sagt, er und seine Frau befänden sich seit 27 Jahren gemeinsam in einem Prozess: „Ohne die Gruppen wären wir nicht mehr zusammen – oder ich hätte wieder angefangen zu saufen.“