Essen. Depressive gelten manchem als faul, wenn sie nicht arbeiten, nicht mal vor die Tür gehen können. Eine Essener Gesprächsreihe räumt Vorurteile ab.
Das Thema ist nicht leicht, der Zuspruch war immer groß: „Depression – wir reden darüber“, heißt die Gesprächsreihe im September im Zentrum 60plus in Altenessen. „Das Spannende ist das Format“, sagt Gabriele Becker von der Selbsthilfe-Beratung Wiese, die zu den Veranstaltern gehört. Denn neben Fachleuten sind immer Betroffene dabei – und die bringen eine ganz besondere Expertise mit.
Wie Eddi, der 52 Jahre alt ist und von sich sagt: „Depressiv und angsterkrankt bin ich seit meiner Jugend. Und ich wusste auch: Irgendetwas stimmt nicht.“ Doch gegen die Diagnose einer psychischen Krankheit hat er sich lange gewehrt, obwohl ihm auch seine Familie riet, sich helfen zu lassen. Obwohl er 16 Jahre lang arbeitslos war und mit dem Gefühl leben musste, dass andere denken, er sei einfach faul.
Lange sei er „so durchgerutscht“, arbeitete zeitweilig bei seinem Schwager, der auf ihn Rücksicht nahm. „Ich hatte Angst vor dem Stigma. Ich hab’ gedacht: Lieber keine Arme oder Beine als eine Psycho-Krankheit.“ Wohl informierte er sich über Angststörungen, erfuhr, dass man sie in 95 Prozent der Fälle in den Griff bekommt und dachte: „Ich gehöre zu den fünf Prozent.“
Essener konnte sich kaum noch von seiner Wohnung wegbewegen
Unbehandelt wurden seine Ängste heftiger: Schon eine Fahrtzeit von einer Stunde hielt er nicht aus. Sich von seiner Wohnung zu entfernen, war eine Herausforderung: „In der schlimmsten Zeit war mein Radius auf einen Kilometer geschrumpft.“ Vor zehn Jahren sagte sein Arzt, er könne ihn nicht länger krankschreiben, wenn er nichts unternehme. Eddi ging also in eine Tagesklinik und stellte fest: „Da waren nur Betroffene, ob Arzt oder Hartz IV-Empfänger – und alle waren nett.“
Es war ein Wendepunkt und eine Erfahrung, die ihn ermutigte, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Hier verstehen die anderen die Gedanken, die ihn quälen: etwa ob ein Blick, eine Frage bedeuten, dass ihn jemand nicht mag. Der depressive Autor Tobi Katze habe das in einem Mini-Dialog erfasst: „Möchtest Du einen Kaffee?“ bedeute dann: „Sehe ich so scheiße aus?“
Das 9-Euro-Ticket setzte die Massen in Bewegung – ihn bremste es aus
So etwas könne ihn lange beschäftigen, ihm Kraft rauben. Auch Arbeit bedeute einen hohen Druck: „Ich konnte abends nicht einschlafen, wenn ich am nächsten Tag arbeiten musste.“ Arbeitete er nicht, hatte er Angst vor Post von der Agentur für Arbeit. Dabei sei er dort auf Verständnis gestoßen, als er seine Krankheit endlich ansprach.
Dass er derzeit keine feste Stelle annehmen muss, helfe sehr. Eine Tagesstruktur habe er auch so, er komme gut aus dem Bett. Frage ihn jemand, ob er einen Schrank tragen könne, tue er das gern. Auch sein Radius hat sich wieder erweitert, nun ist das Ruhrgebiet seine Grenze. „Irgendwann möchte ich mal ans Meer.“ Er hat es nie gesehen.
Das 9-Euro-Ticket, das Massen in Bewegung gesetzt hat, bremst Eddi aus: Zu voll sind die Züge, zu bedrohlich das Gefühl, es könnte kein Entkommen geben. Neulich lief er zu Fuß von Wattenscheid nach Steele, um nicht in einen überfüllten Zug zu steigen. Bei Konzerten steht er in der Nähe des Ausgangs: „Ich bin auch mal nach einer halben Stunde gegangen, weil ich drinnen nur so gerade überlebt habe. Das war kein Spaß.“ Er hat auch mal ein Ticket verfallen lassen, weil er es gar nicht in den Saal schaffte.
400 Anfragen im Jahr zu Depressionen-Selbsthilfegruppen
Gleichzeitig könne er ein „wahnsinnig lustiger Kerl“ sein: „Ich bin depressiv, aber nicht humorlos.“ Vor allem kann er heute gut benennen, wie sich seine Depression anfühlt, worauf er achten muss. „Jetzt ist das für mich wie für andere, die zuckerkrank sind: Ich muss meine Medikamente nehmen und auf mich aufpassen.“ Als Experte in eigener Sache ist er auf Anfrage der Wiese nun häufiger bei Infoveranstaltungen für Angehörige und Betroffene. „Jemand wie Eddi ist einfach ein Türöffner“, sagt Gabriele Becker von dem Netzwerk, das im vergangenen Jahr allein 400 Anfragen zu Depressionen-Selbsthilfegruppen bekam. 40 der Gruppen gibt es in Essen.
Einladung zum Gespräch über Depression
„Depression – wir reden darüber“ ist die Veranstaltungsreihe überschrieben, bei der immer donnerstags von 18 bis 19.30 Uhr Betroffene und Angehörige eingeladen sind, sich zu informieren, auszutauschen und Selbsthilfe-Angebote kennenzulernen. Die Veranstaltungen finden im Zentrum 60plus an der Hövelstraße 71 in Altenessen statt. Daneben gehören das Selbsthilfe-Netzwerk Wiese e.V., das Essener Bündnis gegen Depression, die Essener Depressions-Selbsthilfegruppen und das Markus-Haus zu den Veranstaltern.
„Schlecht drauf oder depressiv?“, heißt es am 1. September mit der Psychologin Claudia Demeter. Am 8. September geht es mit ihrer Kollegin Regine Schmelzer um „Wege aus dem Tief“. Am 15. September stellen Jane Splett vom Essener Bündnis gegen Depression und Jana Gurk von der Fachstelle Elternschaft und seelische Erkrankung die Frage: „Wie gehe ich als Angehöriger mit der Erkrankung um?“
Eine Anmeldung ist jeweils erforderlich unter 0201-84 32 05 45, per Mail an antje.behnsen@ekir.de oder bei der Wiese: 0201-20 76 76, selbsthilfe@wiesenetz.de
Nur traut sich nicht jeder Betroffene gleich in eine Gruppe, die Info-Abende sollen also eine erste Chance sein, sich zu über Depression zu informieren: „Die Schwelle ist da viel geringer“, sagt auch Eddi. Darum hofft Antje Behnsen vom Zentrum 60plus in Altenessen, dass auch viele ältere Menschen zu den Abenden kommen. „In der Nachkriegsgeneration wird ,psychisch krank’ leider oft mit balla-balla gleichgesetzt. Und gerade die Frauen sind gewohnt, sich zurückzunehmen.“
Dabei sei Depression im Alter ein großes Thema, schon weil man mit mehr Krankheiten kämpfe, erlebe, wie Kräfte und Fähigkeiten schwinden und wie nahe Menschen sterben. Solche Verlusterfahrungen ließen Senioren in die Depression rutschen, sagt Behnsen: „Das passiert oft schleichend, so dass sie nicht sofort realisieren, was los ist.“
Viele klagten zunächst eher über körperliche Leiden wie anhaltende Rückenschmerzen, weil sie nicht sagen könnten, dass es ihnen psychisch schlecht gehe, ergänzt Psychologin Claudia Demeter von der Wiese. Wenn sie aber die Schilderungen anderer Betroffener hörten, fänden sie sich darin wieder. Das sei fast wichtiger als die Fachvorträge.
Manche Sätze sind nicht hilfreich – sondern übergriffig
„Wir sind auch ein Profi-Haufen“, sagt Eddi über die Selbsthilfegruppen. Sie könnten Angehörigen erklären, welche Sätze nicht hilfreich, sondern übergriffig sind („Du musst nur wollen.“) und wie willkommene Unterstützung aussehe. Mit anderem wolle man Freunde und Verwandte lieber gar nicht belasten: „Aber in der Selbsthilfe kann man das alles aussprechen – da gibt es keine Tabus.“